Was ist ein Politiker? Wikipedia definiert: „Politiker haben das Ziel, durch ihr Denken Probleme der Gesellschaft zu lösen und durch ihr Handeln Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen.“ Doch wie weit dürfen sie dabei gehen? Eine derzeit laufende Motion gibt Anlass, darüber nachzudenken, wie es unsere Politiker eigentlich mit der Wahrheit halten.
Am 17. März 2022 reichte SP-Nationalrätin Samira Marti die Motion „Kostenloser (sic!) Zugang zu Verhütungsmitteln für junge Menschen bis 25 Jahre garantieren“ im Nationalrat ein. Darin fordert sie, der Bundesrat solle „die gesetzlichen Grundlagen schaffen, um den niederschwelligen Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln für Frauen und Männer bis 25 Jahre zu ermöglichen.“ Der dazu eingereichte Text weist jedoch gravierende Mängel in der Argumentation auf.
Mehr Verhütung, weniger Abtreibungen?
Marti führt zunächst das Beispiel Frankreich an. Dort erhalten Frauen bis zum Alter von 25 Jahren seit Januar 2022 Verhütungsmittel kostenlos. Vorher galt diese Regelung bis 18 Jahre. Grund für die Ausweitung sei, dass die Zahl der Abtreibungen „in dieser Zeit“ gesunken sei, so Marti. Von der neuen Regelung verspricht man sich nun offenbar ähnlich positive Ergebnisse.
Neuere Statistiken zeigen, dass diese Erwartung nicht erfüllt wurde. Im Jahr 2022 wurden in Frankreich 234‘300 Abtreibungen durchgeführt. Das sind 17‘000 mehr als 2021. Am häufigsten trieben Frauen zwischen 20 und 29 Jahren ab. Konkret bei den Frauen zwischen 20 und 24 Jahren stieg die Quote im Vergleich zu 2021 um 2,6 Prozent auf etwa 27 Prozent. Genau diese Gruppe ist es, die besondere Aufmerksamkeit verdient. Hier hätte die Abtreibungszahl sinken sollen, da diese Gruppe ja von der Neuregelung der kostenlosen Verhütungsmittel profitiert. Stattdessen trieben – in absoluten Zahlen ausgedrückt – über 63‘000 Frauen in dieser Altersgruppe innerhalb dieses Jahres ab.
Die exakten Zahlen konnte man im März 2022, als Marti die Motion einreichte, natürlich noch nicht wissen. Doch nun, knapp zwei Jahre später, liegen die Fakten auf dem Tisch. Und diese Fakten belegen: Kostenlose Verhütung ist nicht gleichzusetzen mit sinkenden Abtreibungszahlen.
Da im Jahr 2022 in Frankreich der Weg zur Abtreibung durch diverse Gesetzesänderungen ausgebaut wurde, ist es nicht sicher, auf welche Faktoren die Zunahme der Abtreibungen letztlich zurückzuführen ist. Fakt ist jedoch, dass weder die Vergabe von Verhütungsmitteln noch die Gesetzesänderung die Zahl der Abtreibungen reduziert hat. Stattdessen sprang sie 2022 auf den höchsten Stand seit 30 Jahren.
Die Hierarchie der Grundbedürfnisse
„Der Zugang zu Verhütung gehört zu den grundlegenden Bedürfnissen“, behauptet Marti weiter. Bedürfnisse gliedern sich nach dem bekannten amerikanischen Psychologen Abraham Maslow mit abnehmender Dringlichkeit in folgende fünf Stufen: physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse, Selbstverwirklichung.
Der Wunsch des Menschen nach Nähe, nach Intimität und Sexualität gehört zweifellos zu den Bedürfnissen des Menschen. Doch das gilt nicht gleichermassen für den Zugang zu Verhütungsmitteln. Das eine ist ein Drang, ein Wunsch des Menschen, das andere eine Frage des Wie. Auch hier stellt Marti also eine Behauptung auf, die bei näherer Betrachtung nicht haltbar ist.
Allenfalls könnte man argumentieren, die Verwendung von Verhütungsmitteln falle unter die Kategorie Selbstverwirklichung. Ob Menschen verhüten wollen oder nicht, ist ihre Entscheidung. Niemand hindert sie daran. Aber Staat und Krankenkassen sind nicht verpflichtet und können auch nicht verpflichtet werden, die Selbstverwirklichung der Bürger zu finanzieren – vor allem nicht, solange die Bürger für wesentlich grundlegendere Bedürfnisse selbst aufkommen müssen.
Verhütung in Europa …
Der Zugang zu Verhütungsmitteln „stärkt die öffentliche Gesundheit“, proklamiert Marti des Weiteren. Lassen wir hierzu erneut die Statistiken sprechen. Ein Verhütungsatlas von 2022 gibt Auskunft über das Verhütungsverhalten in Europa. Dieses fällt in den verschiedenen europäischen Ländern recht unterschiedlich aus. 2018 lag der Mittelwert für die Verhütung bei Frauen in Europa bei etwa 70 Prozent.
Die Statistik-Plattform Statista gibt Auskunft über die Entwicklung sexuell übertragbarer Krankheiten in Europa: „Im Zeitraum der Jahre 2012 bis 2022 hat die Zahl der Syphilis-Fälle in Europa um knapp 98 Prozent zugenommen. Die Zahl der registrierten Gonorrhö-Infektionen hat im gleichen Zeitraum um rund 224 Prozent zugenommen.“
… und die „öffentliche Gesundheit“
Zudem weiss Statista zu berichten: „Nicht nur in Deutschland scheinen STI (= sexuell übertragbare Krankheiten, Anm. d. Red.) auf dem Vormarsch zu sein, sondern auch im Rest von Europa: So hat sich die Zahl der Infektionen mit Lymphogranuloma venerum (LGV) – einer Sonderform einer genitalen Chlamydieninfektion – im Zeitraum von 2012 bis 2022 europaweit mehr als vervierfacht. Die Anzahl der Gonorrhö-Fälle hat sich im gleichen Zeitraum verdreifacht. (…) Bis zu 100‘000 Frauen (allein in Deutschland, Anm d. Red.) könnten in Folge einer unbehandelten Chlamydieninfektion ungewollt kinderlos sein.“ In Deutschland liegt die Verhütungsrate zwischen 70 und 80 Prozent. Trotzdem hat sich die Zahl der Hepatitis-B-Fälle hier innerhalb einer Dekade verzehnfacht.
Vor diesem Hintergrund ist nicht zu verstehen, warum Marti sich von einfacherem Zugang zu Verhütung eine Stärkung der öffentlichen Gesundheit verspricht.
Was ist das eigentliche Ziel?
Die Motion von Samira Marti baut damit auf völlig falschen Prämissen auf. Die Gegenargumente, ja Gegenbeweise zu obigen Behauptungen zu finden, war Sache einer halben Stunde. Was also ist das eigentliche, langfristige Ziel dieser Motion? Und welche Mittel sind in der Politik erlaubt, um ein Ziel, eine politische Agenda zur erreichen? Diese Fragen und ihre Antworten darauf müssen offen auf den Tisch kommen.
Kein Einzelfall
Es ist nicht das erste Mal, dass mit falschen und leicht widerlegbaren Aussagen „Einfluss auf politische Entscheidungen“ genommen wurde. Bereits 2016 kam im Zusammenhang mit der CVP-Volksinitiative „Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe“ ans Licht, dass völlig falsche Zahlen im zugehörigen Abstimmungsbüchlein angegeben worden waren. Der Bund hatte die Zahl der Ehepaare, die bei der Bundessteuer benachteiligt sind, mit 330‘000 klar zu tief deklariert (richtig wäre 704‘000 gewesen). Die Initiative war damals nur äusserst knapp gescheitert. Man darf davon ausgehen, dass das Ergebnis anders ausgefallen wäre, hätte man die Bevölkerung korrekt informiert. Aus diesem Grund entschied das Bundesgericht 2019 zu Recht, dass die Abstimmung wiederholt werden müsse.
Auch eine parlamentarische Initiative von Nationalrätin Léonore Porchet aus dem Jahr 2022 wies Argumentationsfehler auf. Zukunft CH reagierte mit einer Stellungnahme an den Nationalrat mit der dringenden Bitte, die Initiative abzulehnen – was er dann auch tat.
Genaues, kritisches Hinschauen lohnt sich also. Auch die eigene Stimme zu erheben, ist nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht, wenn es um die Wahrheit geht. Dass es oft genug notwendig ist, weil Politik sonst zum Marionettenspiel wird, hat die aktuelle Motion einmal mehr gezeigt.