Die Muslimbruderschaft, in der ganzen Welt und auch in der Schweiz verbreitet, hat einen neuen Obersten Führer (offizieller Titel: Generallenker) erhalten: Nach dem Tod ihres amtierenden Leiters Ibrahim Munir am 4. November 2022 im Alter von 85 Jahren in London kämpften seine Diadochen untereinander monatelang um die Kontrolle der Bewegung. Dann machte in diesem Frühjahr ein Aussenseiter das Rennen.
Von Heinz Gstrein, Orientalist
Salah Abdel-Haq, ein ebenfalls in London lebender Dermatologe, 78 Jahre alt, ist in der Mitte zwischen dem gemässigten und radikalen Flügel der Muslimbrüder platziert. Er macht äusserlich einen gütig-abgeklärten, vielleicht auch nur resignierten Eindruck. Dieser Anschein von „Grossvater-Look“ trügt aber oft bei islamistischen Führern: im Fall des „Islamischen Revolutionärs“ Ayatollah Khomeini in Iran z.B., der Todesurteile mit freundlicher Stimme verkündet und dabei nach verständnisvoller Milde ausgeschaut hatte.
Londoner Imam vs. Istanbuler Imam
Salah Abdel-Haq soll nun die interne Spaltung beenden, die zuletzt zu einem „Imam“ in London und einem „Gegen-Imam“ in Istanbul geführt hat. Er hielt sich aus diesen Fraktionskämpfen heraus, kommt auch nicht, wie sonst üblich, aus dem „Führungsbüro“ der Bruderschaft. Der neueste Richtungsstreit – nach vielen anderen – in der 95jährigen Geschichte der Muslimbrüder ist nach ihrem spektakulären Aufstieg in Ägypten während des „Arabischen Frühlings“ ausgebrochen. Die Bruderschaft gewann 2011/12 alle Wahlen und stellte sogar den Staatspräsidenten Muhammad Mursi. Er wurde demokratisch gewählt, war aber kein Demokrat. 2013 wurde er vom Militär – das breite Unterstützung von der Bevölkerung erhielt – gestürzt. Eine Verfolgung der Bruderschaft setzte ein. Auch Abdel Haq floh aus Ägypten in die Türkei. Als auch dort den Muslimbrüdern, bevor sich ihrer der Islamist und spätere Staatschef in Ankara, Recep Tayyip Erdogan, annahm, der Boden zu heiss wurde, setzte sich Abdel-Haq wie viele andere führende Persönlichkeiten der Bruderschaft nach London ab.
Salah Abdel-Haq stammt aus einer frommen bürgerlichen Familie in Kairo. Sein Vater war Lehrer, er selbst ist Arzt: ein typischer Hintergrund für die oft aus besseren bürgerlichen Verhältnissen stammenden Muslimbrüder. Der Bruderschaft hatte er sich noch als Schüler angeschlossen, bereits 1965 wurde er erstmals verhaftet. Präsident Gamal Abdel Nasser verfolgte die Brüder, die den Militärs 1952 beim Sturz der Monarchie geholfen hatten und danach mitregieren wollten. Das war auch die Zeit ihrer Radikalisierung durch den rabiat antijüdischen und antiwestlichen Ideologen Sayyid Qutb. Dessen Hinrichtung unter Abdel Nasser 1966 machte ihn in breiten ägyptischen und gesamtislamischen Kreisen noch populärer.
Reformkurs oder Täuschungsmanöver?
Was die Muslimbruderschaft betrifft, verstand es jedoch ihr damaliger (1950–1973) Generallenker Hassan al-Hudeibi, Tendenzen zur weiteren Radikalisierung der Organisation abzuwenden. Dafür war seine Programmschrift „Verkünder, nicht Verfolger“ von 1969 richtungweisend. Was bedeutet, dass auch jetzt der neue Generallenker Abdel-Haq (deutsch: Diener der Wahrheit) von seinem Amt her befugt wäre, die Muslimbrüder auf einen gemässigteren Reformkurs zurückzubringen. Zwar lassen seine ersten Kundmachungen auf eine Abkehr von Gewalt und eine friedliche globale Islamisierung schliessen. Doch ist noch offen, ob es sich dabei nicht nur um ein verbales Täuschungsmanöver (arabisch: taqiyah) handelt.
Jedenfalls hatte schon der Gründer der Bruderschaft, der arbeitslose ägyptische Lehrer Hassan al-Banna (1906–1949), die Losung ausgegeben: „Seid Soldaten für den Ruf zum Islam, worin neues Leben für unser Land und Ruhm für die islamische Weltgemeinschaft der Umma begründet sind. Als Brüder im Dienst des Islam nennen wir uns die ‚Muslimbrüder‘“. Auf diese militante Weise wollte Banna den Islam modernisieren und die moderne Welt islamisieren. Das hat die neueste und bisher beste Banna-Biographie von Gudrun Krämer herausgearbeitet: „Der Architekt des Islamismus: Hasan al–Banna und die Muslimbrüder“ (München 2022).
„Islam der Juristen“
Eine viel weniger radikale Form der Islamerneuerung wurde aber schon von seinem jüngeren Bruder Gamal al-Banna (1920–2013) vertreten. Mit seinem Aufruf zur islamischen Wiedererweckung (al-ihya al-islami) wollte er die Muslime bestärken, sich nicht auf die althergebrachte Islam-Interpretation zu verlassen, sondern sich mit Hilfe des Korans und der Vernunft eine eigene Meinung zu bilden. Nach Gamal al-Bannas Ansicht gibt der Islam Frauen und Männern dieselben Rechte und Pflichten, und ein guter Muslim betrachte alle Menschen als gleichwertig, gleich welcher Religion sie angehören. Dieses fortschrittliche Verständnis des Islam sah er im Gegensatz zu den vorherrschend reaktionären Versionen, die durch die Jahrhunderte über von den fuqaha, den pharisäischen Religionsjuristen festgelegt bzw. verfälscht worden seien. Während dieser traditionelle „Islam der Juristen“ die Frauenrechte stark einschränke, wollte der ursprüngliche Islam seiner Ansicht nach die Frauen befreien. In Ägypten setzte sich Gamal al-Banna für die Verständigung zwischen der muslimischen Mehrheit und der koptisch-christlichen Minderheit ein.
Die Muslimbruderschaft hält es aber bis heute mit Hassan und nicht mit Gamal al-Banna. Dessen Rezeption wäre die wichtigste Aufgabe ihres neuen Generallenkers Salah Abdel-Haq, wenn sich die Muslimbrüder zukunftsträchtig weiterentwickeln und nicht zu einer Sekte mit rückwärtsgewandter Nabelschau verkommen sollen.
Die Schweiz als Ort der Wiedergeburt der Muslimbruderschaft
Natürlich stellt sich die Frage, was diese fernen Vorgänge in der islamischen Welt für die Schweiz zu bedeuten haben. Sehr viel, seit Hassan al-Bannas engster Mitarbeiter Said Ramadan, der auch eine der Banna-Töchter geheiratet hatte, nach dessen Ermordung mit seiner Familie hilflos und Schutz suchend durch die islamische Welt irrte, bis er diesen 1958 in Genf fand: in einer Villa des Emirs von Katar. Als Vertreter Saudi-Arabiens und Jordaniens bei den Genfer Organisationen der UNO fand er in der Schweiz einen sicheren Wirkungsort. In seinem Haus gründete er ein „Islamisches Zentrum“, von dem Said Ramadan 1975 in einem Interview verkünden konnte, dass es 40 Moscheen in Westeuropa betreue. Er selbst sei der Führer von sieben Millionen eingewanderten europäischen Muslimen. Die Schweiz wäre eine ideale Basis für die Wiedergeburt der in Ägypten unterdrückten Muslimbruderschaft.
Seine Söhne Hani und Tariq Ramadan stellten sich dann ganz in den Dienst der Vision ihres Vaters, machten sich aber auch geschickt als „Vorzeigemuslime“ für den christlich-islamischen Dialog beliebt. Sie verstanden es, die gelbe Fahne der Muslimbrüder mit der vierfingerigen Hand „Rabaa“ auch bei den europäischen Linken als Emblem für ihre Demonstrationen einzuschleusen.
Zwar hat der Ruf der Ramadan-Brüder in letzter Zeit unter den Anklagen von Terrorismusfinanzierung und sexuellen Übergriffen stark gelitten. Doch hat sich die Muslimbruderschaft nicht von ihnen distanziert. Auch das wäre eine Aufgabe für den neuen „General“ Abdel-Haq …