Abtreibungen sind nach geltendem Recht während den ersten 12 Wochen seit Beginn der Schwangerschaft erlaubt, sofern die betroffene Frau eine „Notlage“ geltend macht. Der Nationalen Ethikkommission reicht das nicht. In einem unlängst veröffentlichten Dokument fordert sie unter dem Deckmantel der „Versorgungssicherheit“ indirekt ein Recht auf Abtreibung bis kurz vor der Geburt.
Von Niklaus Herzog
Rund zehntausend Abtreibungen werden in der Schweiz nach offiziellen Angaben pro Jahr vorgenommen. Davon finden 500 Abbrüche nach der zwölften Schwangerschaftswoche statt. Rund 40 Abtreibungen erfolgen in der 23. Schwangerschaftswoche; in etwa 25 Fällen kommen Kinder nach einem Abbruch in einem überlebensfähigen Zustand zur Welt. Nicht die hochgradige Problematik dieser Faktenlage ist für die Nationale Ethikkommission (NEK) Anlass für eine 50 Seiten umfassende Publikation mit dem Titel „Zur Praxis des Abbruchs im späteren Verlauf der Schwangerschaft“. Primäres Anliegen ist der NEK ihrem vermeintlich wertfreien, technisch-sterilen Jargon zufolge vielmehr die „Sicherstellung einer hochstehenden und einheitlichen Versorgungsqualität“.
Geradezu exemplarisch lässt sich am Beispiel dieser Publikation wie auch an der strafrechtlichen Regelung der Abtreibung und deren Umsetzung insgesamt die Erosion des Rechtsstaates und damit des Lebensschutzes festmachen. So ist die innert 12 Wochen erfolgende Abtreibung gemäss Art. 119 Abs. 2 Strafgesetzbuch straflos, sofern die schwangere Frau schriftlich „eine Notlage geltend macht“. Ob diese Notlage tatsächlich existiert, ist ohne Belang, braucht weder beschrieben noch begründet zu werden (vgl. Andreas Donatsch [Hrsg.] Kommentar zum StGB) .Die Rechtsnorm verkommt so zur belanglosen Floskel. Ehrlicher wäre es, auf dieses Feigenblatt ganz zu verzichten. Im Prinzip bis zur Geburt – und darum geht es im NEK-Dokument – ist eine Abtreibung straflos, wenn sie „nach ärztlichem Urteil notwendig ist, damit von der schwangeren Frau die Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung oder einer schweren seelischen Notlage abgewendet werden kann“ (Art. 119 Abs. 1 StGB). Wie die NEK-Dokumentation zutreffend festhält, muss der Arzt bzw. die Ärztin (und nicht die schwangere Frau) entscheiden, ob eine solche Notlage tatsächlich vorliegt (sog. sozial-medizinische Indikation). Doch was heisst hier „Notlage“? Die NEK spricht in diesem Zusammenhang zutreffend von einem „Ermessensentscheid“ (sprich des Arztes bzw. der Ärztin). Die gleiche NEK setzt sich aber wenig später gleich zu sich selbst in Widerspruch mit dem Hinweis, nur die betroffene Frau selber könne das Ausmass der Notlage abschätzen. Ein einigermassen perfides Manöver: Damit wird die rechtlich festgeschriebene Kompetenz von Ärztinnen und Ärzten, über Spätabtreibungen zu befinden, ausgehebelt. In letzter Konsequenz sollen so bei Spätabtreibungen entgegen dem Wortlaut des Gesetzes die gleichen Voraussetzungen gelten wie bei Abbrüchen innerhalb der ersten zwölf Wochen.
Besonders eindrücklich manifestiert sich das Drama der Spätabtreibungen in jenen Fällen, bei denen das Kind lebend auf die Welt kommt. Im Kapitel „Rechtslage bei Lebendgeburten nach Schwangerschaftsabbruch“ finden sich im NEK-Dokument aufschlussreiche Passagen: „Das Zivilrecht bestimmt, dass das Kind die Persönlichkeit mit der Vollendung der Lebendgeburt erlangt, sofern Lebenszeichen, etwa Atemzüge oder Herzschläge, wahrnehmbar sind…Im Strafrecht setzt der Schutz des Kindes früher ein als im Zivilrecht, nämlich bereits mit Beginn des Geburtsvorgangs…Kommt ein Kind nach einem Schwangerschaftsabbruch lebend zur Welt, sind die Ärzte grundsätzlich verpflichtet, das Leben des geborenen K;indes zu schützen, ansonsten machen sie sich gegebenenfalls wegen vorsätzlicher Tötung durch Unterlassung oder Unterlassung der Nothilfe strafbar. Aus strafrechtlicher Sicht wird der Tod eines auf diese Weise geborenen Kindes noch als Folge eines Schwangerschaftsabbruchs qualifiziert, wenn sich der Eintritt seines Todes kurze Zeit nach der Geburt trotz medizinischer Intervention nicht verhindern lässt. Auch wenn die Abbruchshandlung nach Art. 119 Abs. 1 StGB zulässig war, ist dies per se also kein Rechtfertigungsgrund, das Kind nun durch aktives Tun zu töten oder ohne Behandlung sterben zu lassen. Vielmehr liegt nun ein neues Geschehen vor, das rechtlich selbständig zu bewerten ist. Das ärztliche Handeln muss daher darauf ausgerichtet werden, das Lebensrecht zu achten und zu schützen, einerlei, ob zuvor ein (gerechtfertigter) Schwangerschaftsabbruch vorlag oder nicht. Nach einer Lebendgeburt nach Schwangerschaftsabbruch steht nicht mehr die Notlage der Frau im Zentrum der Erwägungen, sondern die Frage, welche medizinischen Massnahmen im Wohl des Kindes liegen.“ Deutlicher kann man es nicht mehr sagen. Es liegt somit auf der Hand, dass diverse der im NEK-Dokument geschilderten Fälle strafrechtlich relevant sind. Dies gilt umso mehr, als die Neonatologie in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht hat bzw., um es in den Worten der NEK zu sagen, die Überlebenschancen eines vorzeitig geborenen Kindes „auf der Zeitachse stark nach vorne gerückt sind.“ Angesichts der gerade im Bereich des Lebensschutzes um sich greifenden Rechtsverluderung erstaunt es nicht, dass der Berner Gynäkologe Daniel Surbek das Résumé ziehen kann, bis dato noch nie juristische Konsequenzen im Gefolge von Spätabtreibungen erlebt zu haben (vgl. NZZ vom 1. März 2019).
Eklatante Widersprüche
Es gehört zu den eklatanten Widersprüchen dieses Dokumentes, dass im nachfolgenden Kapitel über die herrschende Praxis von Spätabtreibungen zwar in extenso die verschiedenen dabei angewandten Methoden beschrieben werden – von dem medikamentös vorzeitig eingeleiteten Geburtsvorgang bis zur Todesspritze ins Herz des werdenden Kindes – dabei aber die strafrechtliche Relevanz von Spätabtreibungen vollständig ausgeblendet wird.
Im Schlusskapitel „Zusammenfassung und Empfehlungen“ wird deutlich, um was es im Kern bei der ganzen Übung geht: “Die Praxis des Abbruchs im späteren Verlauf der Schwangerschaft gestaltet sich heute in den verschiedenen Kliniken der Schweiz sehr unterschiedlich. Diese Situation ist unbefriedigend im Hinblick auf die Gleichbehandlung, die Versorgungssicherheit, die gerechte Aufgaben- und Ressourcenverteilung, die Unterstützung der Ärzte- und Pflegeteams sowie eine gute klinische Praxis.“ Unbefriedigend aus Sicht der NEK ist vor allem, dass in der Schweiz noch nicht alle Kliniken mit der Ideologie der Abtreibungs-Lobby gleichgeschaltet sind: „Insbesondere in ländlichen Regionen und in Spitälern mit katholischer Trägerschaft scheinen Frauen oftmals mit einem restriktiven Umgang konfrontiert.“ Die aus dem grossen Kanton stammende Tanja Krones, Mitglieder der NEK und Co-Autorin dieses Dokumentes, lässt sich in einem Interview (Berner Zeitung vom 28. Februar 2019) zur infamen Unterstellung hinreissen: „Eine versteckte christliche Moral spielt bei den Diskussionen um die Methodenwahl häufig noch mit. Diese Moral fördert das Tabu, über Spätabtreibungen zu sprechen, und gleichzeitig schwingt eine implizite Haltung mit, wenn schon abtreiben, dann muss es möglichst schwierig und schmerzhaft sein“ (sic!).
Es ist nun völlig widersprüchlich, einerseits zu betonen, dass sich der Begriff der „seelischen Notlage“ nicht objektivieren lasse, im gleichen Atemzug aber mit der Forderung nach schweizweiter Gleichschaltung der Spätabtreibungspraxis eben dieses Ermessen jenen Teilen der Ärzteschaft verbieten zu wollen, die sich dem Lebensschutz bzw. anderen Wertvorstellungen verpflichtet fühlen. Ja, diese Forderung, die überdies ungefragt die Interessen der Frauen monopolisiert, ist nicht nur widersprüchlich, sondern recht eigentlich totalitär.