Es ist nicht mehr zu leugnen: Die Cancel Culture betrifft vor allem die einstigen Anstalten von Forschung und Wissenschaft, nämlich die Universitäten. Doch dabei bleibt es nicht. Eine Kulturrevolution wird vorangetrieben, die alles beseitigt, was bisher sinn- und identitätsstiftend war. Sie strebt in Richtung Weltbürgertum und an ihrem Ende steht die Entwurzelung des Menschen. Wollen wir das?

Von Ralph Studer 

„Es ist eine Tatsache, dass ich in keiner französischen Universität einen Vortrag halten kann, gleich über welches Thema, ohne schlimme Zwischenfälle zu provozieren. Die Cancel Culture hat sich überall verbreitet.“ Dies schreibt niemand Geringeres als der bekannte französische Philosoph Alain Finkielkraut in seinem Buch „Ich schweige nicht“. Finkielkraut, Mitglied der renommierten Académie française, äusserte sich in der Vergangenheit kritisch zu Massenmigration, Antisemitismus und Wokeismus. Er ist gegen den „Gleichheitswahn“ und verteidigt die französische Nation. So wurde er zum „white old man“, der nicht mehr zum heutigen Zeitgeist passt.

Allumfassende „Gleichheit“

Finkielkraut ist ein messerscharfer Analyst, der über die europäische Identität reflektiert. Nach der Abschaffung Gottes und der Religion trat die Kultur an deren Stelle, die – nach Finkielkraut – „zum Ausdruck der höchsten Werte wurde“. Mittlerweile dankt auch die Kultur ab, denn heute ist alles Kultur. Jeder Rap ist Musik, jeder sprachliche Rülpser Poesie und jede Obszönität ein kultureller Erguss. „Im Sumpf“, so Finkielkraut, „in dem jeder badet, gilt alles gleich. Keine Rangordnung bleibt bestehen, nichts Transzendentes ist erlaubt, die allumfassende Gleichheit bewahrt vor der Kränkung durch Grösse.“ Im „hehren Gleichheitskampf“ opfert man das Herausragende, das Vorbildhafte von Menschen, ihre Taten und ihre Schöpfungskraft. Gerade das, was Kultur weitestgehend ausmacht.

Kluft zwischen „Elite“ und Volk

Dieser übersteigerte Gleichheitsgedanke ist mittlerweile in vielen Bereichen anzutreffen. Sachliche Argumente zur Unterscheidung gelten gleich als „Diskriminierung“. Übertragen auf die staatspolitische Ebene und vor dem Hintergrund eines allfälligen Weltbürgertums ergibt diese Gleichmacherei Sinn: Der nationale Staatsbürger lebt in Bindungen zu seiner Familie, zur Landesgeschichte und zur Sprache. Die Vergangenheit ist ihm ein wichtiger Bezugspunkt für Gegenwart und Zukunft. Denn „wer die Vergangenheit nicht kennt,“ so der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, „kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“

Der „Weltbürger“ hingegen lehnt diese Beziehungen und Bindungen, diese Zugehörigkeiten ab. Nationalstaat und Identität sind verpönte Begriffe von „Ewiggestrigen“, so die Sichtweise in bestimmten elitären Kreisen. In der Vergangenheit sehen diese keine Kraftquelle mehr, sondern eine Fessel, die sie nach Finkielkraut kappen, und zwar „alles, was sie mit ihr noch verbinden.“ Was dem Mann auf der Strasse noch etwas bedeutet und wichtig ist wie Familie, Heimat, Verbundenheit und Traditionen, darauf schauen diese Intellektuelle mit Argwohn. Deshalb kann der französische Philosoph Pierre Lévy lapidar schreiben: „Wir hängen ebenso wenig an einem Beruf wie an einer Nation oder an sonst einer Identität.“

Mehr als eine Kirche

Gerade das Beispiel Frankreichs zeigt jedoch, dass Nation, Identität, Kirche und Geschichte den Menschen nicht einfach leere Begriffe sind, sondern tief in ihrer Seele verankert sind und diese verbindet. Als die Kathedrale Notre-Dame im Jahr 2019 brannte, ging es um mehr als eine Kirche, es ging um die nationale Identität Frankreichs.

Dieses Ereignis traf die Bevölkerung von Paris mitten ins Herz und erschütterte Menschen auf der ganzen Welt. „Als die Kathedrale in Flammen stand“, so Finkielkraut, „entdeckten sie [die Bürger], wie sehr sie an ihr hängen: Sie ist nicht bloss ein touristisches Juwel, sondern – ob sie nun katholisch sind oder nicht – ein Teil ihrer eigenen Substanz. (…). Sie weinen dem tausendjährigen Holz des gewaltigen Dachstuhls nach, und unversehens schleicht sich das Gefühl von der Zerbrechlichkeit der Dinge in ihre Vorstellung von Geschichte ein.“

Ja, Notre-Dame gilt seit Beginn ihres Baus vor fast tausend Jahren als Wahrzeichen von Paris und wurde zum Symbol Frankreichs. In den letzten Jahren hat wohl kaum ein anderes Ereignis wie dieses den Menschen gezeigt, dass Identität brüchig und vergänglich ist und dass man sich darum sorgen muss. Sie ist nicht selbstverständlich. Identität heisst Stärke und Verankerung. Fehlt sie, droht der Mensch, zu entwurzeln und er wird anfällig für allerlei Ideologien und Manipulation.

Niederreissen – und was kommt dann?

Was wir heute erleben, ist eine Umgestaltung des Westens vor unseren Augen. „Ich verstehe euch Europäer nicht mehr, ihr habt eine Kulturrevolution veranstaltet, mit ebenso verheerenden Ergebnissen wie damals in China, und das alles freiwillig.“, sagte ein älterer chinesischer Professor, der die von Mao Zedong entfesselten Ereignisse damals noch erlebt hatte. Und er hat Recht. Denn vor allem Europa ist drauf und dran, sein eigenes (christliches) Erbe hinter sich zu lassen, und das mit gravierenden Folgen. Was soll danach folgen? Es entsteht ein Vakuum, eine Leere, die neu gefüllt werden muss. Und womit wird diese gefüllt?

Die gegenwärtige woke Kultur bietet hier jedenfalls keine erstrebenswerten Alternativen an. Ganz im Gegenteil: Sie zerstört die natürliche Familie, redet den Kindern und Jugendlichen ein, sie könnten nach Belieben ihr Geschlecht durch Hormone und Operationen ändern und macht so aus ihnen lebenslange Patienten. Eltern, die mit der Geschlechtsumwandlung nicht einverstanden sind, werden die Kinder entzogen. Sie pusht die sogenannte „sexuelle Vielfalt“, die in gesellschaftliche Orientierungslosigkeit führt. Sie predigt Verhandlungsmoral beim Geschlechtsverkehr statt Liebe und Treue und generiert damit eine bindungs- und liebesunfähige Jugend.

„Wokeismus“ statt Meinungsfreiheit

Statt Toleranz gegen Andersdenkende wird Intoleranz gepredigt und den vermeintlich falsch Denkenden ihr Recht und ihre Würde abgesprochen, ihre Meinung öffentlich zu sagen. Und wenn sie diese trotzdem sagen, müssen sie mit Repressalien und gesellschaftlichen Ausschluss rechnen. Damit ebnet die woke Kultur den Weg in eine totalitäre Gesellschaft. Gesellschaft, Schulen und Lehrmittel sollen durchforstet werden, da die Menschen, ohne es zu wissen, einem „strukturellen Rassismus“ anheimgefallen seien. Und „denjenigen“, so Finkielkraut“, „die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, möglichst vielen Menschen das Erbe des geistigen Adels der Welt weiterzugeben, wirft man vor, zur Reproduktion einer Gesellschaftsordnung beigetragen zu haben.“ Die Liste liesse sich beliebig weiterführen.

Wollen wir einer solchen Entwicklung tatenlos zusehen? Wollen wir unser kulturelles, unser christliches Erbe niederreissen und es zulassen, dass eine „neue Gesellschaft“ geschaffen wird, die auf Hass, Misstrauen, Intoleranz und Ausgrenzung beruht? Sind das die Werte der Zukunft?

Welches Erbe hinterlassen wir?

Die Frage stellt sich: Woher kommen ein solcher Hass und eine solche Abneigung gegenüber unserer eigenen Kultur, Geschichte und Tradition? Woher dieser aufflammende Kulturkampf? Ist es eine Folge des Materialismus und unseres Wohlstands, der uns die geistigen Werte und das Wertvolle unserer Identität nicht mehr sehen lässt? Resultiert dies aus dem Wunsch sogenannter „Intellektueller“, eine eigene durch Menschen erbaute neue Welt und einen neuen Menschen zu schaffen, ohne einen Schöpfergott? Ist es also letztlich die Hybris des Menschen? Oder liegt der Grund in Gleichgültigkeit und zunehmender Individualisierung, die das Gemeinsame in den Schatten stellt? Oder in Neid und Missgunst?

Vielleicht ist es auch eine Kombination all dieser Aspekte. Unabhängig davon liegt es in unserer Verantwortung, welches Erbe wir unseren Kindern und den kommenden Generationen hinterlassen.

Wir haben ein starkes und tragfähiges Fundament

Die gegenwärtige Krise der Identität und der fehlenden Orientierung in weiten Teilen des Staates und der Gesellschaft verlangt nach einer Antwort. Wir brauchen einen neuen, vor allem geistigen Aufschwung. Vieles liegt darnieder. Gerade Krisenzeiten verlangen ein In-sich-gehen, ein Nachdenken über Werte, die als Kompass dienen und uns neue Orientierung und Perspektive vermitteln. Doch wo finden wir diese?

Werte haben in der europäischen Geschichte eine lange Tradition. Erinnern wir uns unserer drei geistigen Säulen: Die Kultur Europas und die daraus fliessenden europäischen Werte haben ihr Fundament im jüdisch-christlichen Glauben, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas und die Anerkennung der unantastbaren Würde des Menschen, die es zu verteidigen gilt.

Aus dieser Tradition stammt auch der Ursprung der Menschenrechte, welche die Idee der Gleichheit der Menschen vor dem Recht und das Wissen und die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt hat. Ehe und Familie bilden den gesellschaftlichen Kern und das Fundament des Staates. „Eine wahrhaft souveräne und geistig starke Nation“, so der frühere Papst Johannes Paul II., „besteht immer aus starken Familien, die sich ihrer Berufung und ihrer Sendung in der Geschichte bewusst sind.“

Aufbau beginnt an der Wurzel

Wir können den Zerfall der Werte nicht aufhalten, indem der Staat mehr Polizisten, Sozialarbeiter und Psychologen anstellt. Die Probleme der Gegenwart sind nicht lösbar ohne unseren persönlichen Einsatz. Vieles bleibt sonst Symptombekämpfung und geht an den eigentlichen Ursachen unseres Wertedefizits vorbei.

Setzen wir an der Wurzel an. Entdecken wir jene Ordnungen wieder, auf die wir sicher bauen können. Das sind Ordnungen und Werte, die ihren Ursprung im Schöpfer und in der Natur des Menschen haben. Das sind keine Beschränkungen oder gar Fesseln. Im Gegenteil: Sie helfen zu einer sinnvollen Entfaltung der Persönlichkeit, zu einem erfüllten Leben und gesellschaftlichen Zusammenleben in Frieden, Wohlstand und Lebensfreude. In der Annahme der menschlichen Natur und im Einklang mit der Vernunft vollzieht sich wahre menschliche Freiheit. Wenn viele mitmachen, kann eine Neubesinnung in unserem Land gelingen. Wir haben es in der Hand.

Passend zum Thema:

Zukunft CH zeigt mit der neuen Sonderausgabe „Manipulation und Propaganda – und wie wir uns davor schützen können“, welche Mechanismen greifen, um die öffentliche Meinung in eine bestimmte Richtung zu lenken und was Menschen stark und widerstandsfähig dagegen macht.

Die Broschüre von Zukunft CH „Die Schweiz im Umbruch: Wie Freiheit und Verfassung umgewertet und verletzt werden“ zeigt u.a. die gegenwärtige Entwicklung weg vom nationalen Staatsbürger hin zum Weltbürger. Zudem deckt sie Verfassungsbrüche der letzten Jahre und künftige Gefahren für unsere Freiheit und Verfassung auf.

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