Nur dort, wo Menschen die Freiheit haben, zu glauben und zu sagen, was sie wollen, gibt es funktionierende Demokratien. Der Despotismus kann auf Religion verzichten, die Freiheit nicht.
Von Giuseppe Gracia
Unsere Gesellschaft wäre besser dran ohne Religion, denn es gäbe weniger Fanatiker und weniger Krieg. Das ist eine populäre Ansicht. Sie wurde über Jahrhunderte von verschiedenen Religionskritikern vorgetragen, von Auguste Comte über Friedrich Nietzsche bis zu Sigmund Freud oder Karl Marx. Diese haben stets auch die katholische Kirche kritisiert, die heute rund 1,3 Milliarden Mitglieder hat und weiter wächst, jedes Jahr um etwa 14 Millionen Mitglieder. Für viele eine fortschrittsfeindliche Kirche, mit patriarchaler, homophober Sexualmoral, um die Frau auf die Mutterschaft zu reduzieren. Deswegen macht man die Kirche für das Bevölkerungswachstum in den ärmsten Ländern verantwortlich und ist überzeugt: Wären solche Religionen in Europa nicht von Vernunft und Aufklärung zurückgedrängt worden, es hätte die Freiheitsgeschichte des Westens nie gegeben.
So sehen es auch einige Protagonisten meines Romans „Der letzte Feind“. Darin gibt es aber auch Stimmen für die Religion. Sie erinnern etwa an die Tatsache, dass im 20. Jahrhundert zwei grosse Bewegungen versucht haben, eine bessere Welt ohne Judentum und Christentum zu bauen: Kommunismus und Nationalsozialismus. Resultat: 100 Millionen Tote durch kommunistische Regimes, 50 Millionen Tote durch den 2. Weltkrieg. Man könnte sagen: Der Atheismus hat allein im 20. Jahrhundert mehr Menschen getötet hat als alle Religionen zusammen.
Doch auch wenn man es nicht so sieht und der Meinung ist, dass unsere gegenwärtige Wohlstandsgesellschaft ohne Religion ganz gut unterwegs ist, kann man sich trotzdem fragen: Wie frei sind die Menschen wirklich, seit sie der Kirche den Rücken kehren? Zweifellos hat unsere Zeit grosse Fortschritte zu bieten, vor allem im Bereich Technik und Naturwissenschaft. Aber sind das auch menschliche Fortschritte? Bessere Computer, Operationen, Handys: Bedeutetet das eine Evolution der Seele und Humanität? Nein. Vielmehr entsteht, unter der Oberfläche unserer High-Tech-Kultur, ein spirituelles Vakuum, eine zwischenmenschliche Wüste. Der Mensch als Humankapital, beschäftigt mit Programmen der Selbstoptimierung und, in der Freizeit, mit dem Konsum neuer Produkte und Erlebnisse. Allein im Westen zählen wir pro Jahr rund eine Million Selbstmorde, dazu ein Mehrfaches an Depressionen und Erschöpfungszusammenbrüchen. Wir produzieren eine fortschreitende Verschmutzung der Umwelt und Beschleunigung der Klimakatastrophe. Bereits im letzten Jahrhundert hat der russische Dichter Alexander Solschenizyn davor gewarnt, dass „die westliche Gesellschaft vor dem Materialismus in die Knie geht. Im Osten der Bazar der Partei, im Westen der Jahrmarkt des Handels.“
Je weniger Religion, desto grösser scheint die Gefahr zu sein, dass wir Menschen uns gegenseitig wie Objekte behandeln. Desto mehr droht uns eine Gesellschaft digital gerüsteter Ameisen, ohne Erinnerung an den Himmel, ohne Sinn für die Unverfügbarkeit der Seele. Im 19. Jahrhundert hat der Denker Alexis de Tocqueville dies beschrieben. Er war überzeugt: Wenn die Menschen nicht mehr an Gott glauben, an ein ewiges Leben, schrumpft das Individuum zum Herdentier. „Die Freiheit ist eine Tochter des Christentums. Der Despotismus kann auf Religion verzichten, die Freiheit nicht.“
Was aber, wenn Religion trotz allem nicht so wichtig ist? Dann mag einem immerhin der Schweizer Philosoph Michael Rüegg zu denken geben. In seinem Buch „Krise der Freiheit“ (Schwabe Verlag, 2016) hält er fest: Alle Staaten, die keine Religionsfreiheit garantieren und religiöse Gruppen nicht schützen, sind verbrecherisch und totalitär. Rüegg plädiert für ein „gelassenes Verhältnis“ zwischen Religion und moderner Gesellschaft. Für ihn ist eine Religion dann mit der Moderne vereinbar, wenn sie ihr Verhältnis zur politischen Macht geklärt hat und die Freiheit von Nichtgläubigen und Andersdenkenden vorbehaltlos anerkennt. Dann dürfen Religionen ihre Wahrheitsansprüche vertreten, aber sie dürfen keinen politisch durchzusetzenden Geltungsanspruch erheben. Sie müssen trennen zwischen Staat und Religion, zwischen Macht und Moral. „Nur dort, wo Menschen die Freiheit haben, zu glauben und zu sagen, was sie wollen, gibt es funktionierende Demokratien.“
Wer also für die Freiheit kämpft, der muss auch für die Freiheit der Religion kämpfen. Er muss nicht nur religiös motivierte Angriffe auf die Freiheit Nichtgläubiger ablehnen, sondern auch atheistische Programme zur Abschaffung von Religion. Oder mit den bekannten Worten von Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“
Giuseppe Gracia (52) ist Schriftsteller und Medienbeauftrager des Bistums Chur. Sein neuer Roman „Der letzte Feind“ ist erschienen im Fontis Verlag, Basel.