Die französischen Behörden reden seit dem Anschlag von Nizza von einem Kriegszustand. „Aber keiner hatte den Mut uns zu sagen, er habe nichts anzubieten als Blut, Schweiss und Tränen“, sagt der französische Philosoph und Historiker Rémi Brague in Anlehnung an Winston Churchill. Zudem scheue man sich noch immer, den Feind und seine Ziele klar zu benennen. In einem Interview mit dem Magazin „Famille chrétienne“ sprach der führende katholische Intellektuelle und Islamkenner im Juli 2016 über die Hintergründe und Folgen des islamischen Terrorismus.
Auf die Frage, wieso es uns so schwer falle einzugestehen, dass man sich in einem Krieg befinde, ruft Brague die Worte Churchills in Erinnerung. „Man hat uns gesagt, wir seien im Krieg. Aber niemand hatte, wie damals Churchill, den Mut uns zu sagen, er habe nichts anderes anzubieten als Blut, Schweiss und Tränen.“ Friede sei, so Brague, seit dem zweiten Weltkrieg zu einer Selbstverständlichkeit geworden. „Krieg, Hunger usw., all das ist für die anderen. Zwar sagt das Sprichwort: ‚Glückliche Leute haben keine Geschichte.‘ Aber das Glück lässt sich nicht dadurch herbeiführen, indem man sich einbildet, kein Teil der Geschichte zu sein.“
Einführung der Scharia als Ziel
Laut Brague ist die Gewalt, die in den islamistischen Attentaten zum Ausdruck kommt, hauptsächlich ein Mittel. Wir aber müssten uns fragen, welche Ziele damit verfolgt würden. Zum einen wollten die Terroristen ein Gefühl der Hilflosigkeit erzeugen. „Ungewollt unterstützen die Medien genau diese Wirkung, indem sie serienweise über Attentate berichteten.“ Vor allem aber liegt das Ziel der Attentäter laut Brague in der weltweiten Einführung „der einen oder anderen Form der Rechtsordnung der Scharia, welche die individuelle Moral, das Familienleben, die Wirtschaft und eventuell sogar das politische System bestimmt.“ Wir liessen uns beeindrucken von spektakulären Attentaten, den Enthauptungen durch den Islamischen Staat, die mit viel Sorgfalt und Können inszeniert seien. Aber das alles versperre den Blick auf die wesentliche Frage, die nach dem verfolgten Ziel. Denn dieses „kann auch mit anderen Mitteln erreicht werden, die viel diskreter, aber ebenso wirksam sind. So z.B. durch das Schüren von Schuldgefühlen, durch sozialen Druck, durch die Propaganda des unermüdlichen Widerholens, durch alle Formen von List.“
Die Islamisten müssen laut Brague nicht unbedingt zur Gewalt schreiten. Es könne auch eine Drohung genügen, die dazu führe, den Gegner kampflos gefügig zu machen. Wegen des Risikos, dass die Anwendung physischer Gewalt den Gegner (die Franzosen, die Europäer; Anmerkung der Redaktion) wecken und mobilisieren könnte, sei diese möglicherweise sogar kontraproduktiv. Für die Islamisten wäre es wohl geschickter, den Gegner mit schönen Worten einzuschläfern oder mit der eigenen Schlagkraft zu drohen, ohne diese anzuwenden.
Die Angst, den Feind zu benennen
Die Angst unserer Politiker, den Feind zu benennen, ist laut Brague alt. So habe man vor dem Fall der Mauer kaum gewagt, vom Marxismus-Leninismus zu sprechen. „Man sprach vorzugsweise wage von ‚den Ideologien‘.“ Dieser Plural sei ein bequemes Mittel der Verneblung. So spreche man auch heute von „den Religionen“. Ebenso bevorzuge man (wenigstens im französischen Sprachraum, Anm. der Redaktion) vom arabischen Synonym Daesch anstatt vom „Islamischen Staat“ zu sprechen, um nicht den Islam nennen zu müssen.
Für Brague ist ferner klar: „Die wichtige Trennungslinie verläuft nicht zwischen Islam und Islamismus.“ Zwischen beiden gäbe es nämlich nur einen graduellen Unterschied, keinen wesentlichen. Was man laut Brague wirklich und mit Nachdruck unterscheiden muss, ist auf der einen Seite der Islam, mit all seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Intensitäten, und auf der anderen Seite die Muslime aus Fleisch und Blut. „Der Sinn der Weigerung, unterschiedslos alles in einen Topf zu werfen, liegt darin, diese konkreten Menschen nicht auf das religiöse System zu reduzieren, das in ihren Herkunftsländern herrscht.“
Auf die Frage, ob es für die Christen nicht unmöglich geworden sei, zu vergeben, sagt Brague: „Viele Leute meinen, das Verzeihen von Unrecht, und sogar die fantastisch-paradoxe Aufforderung von Christus zur Feindesliebe, sei gleichbedeutend mit der Weigerung sehen zu wollen, dass wir Feinde haben.“ Darin sieht Brague einen Irrtum. Anderseits werde ohne die christlichen Sicht der Vergebung und der Feindesliebe der Feind leicht mit dem absoluten Übel gleichgesetzt: „das waren einander folgend die Aristokraten (Robespierre), eine Klasse, die sich dem Fortschritt verweigert (Marx), ‚Ungeziefer‘ (Lenin), eine ‚minderwertige Rasse‘ (Hitler), oder „die schlimmsten der Tiere“ (Koran VIII, 22) als Gegenspieler der „Partei Allahs“ (Koran V, 56)“.
Kämpfen, aber ohne Hass
Dem Feind zu vergeben macht für Brague in jedem Fall Sinn: „Was es mit Sicherheit bewirkt, ist die Bekehrung unseres eigenen Herzens, und die Weigerung, sich von der Spirale der Rache, die zu den extremsten Exzessen der Gewalt führt, mitreissen zu lassen.“ Wer bereit sei zu vergeben, frage sich zuerst, ob der, der sich zu seinem Feind erklärt, nicht doch einen Grund dafür habe. Der Vergebungswillige werde sich anstrengen sich zu ändern, aber ohne Schuldkomplex. „Und er wird kämpfen, weil das eine Pflicht ist, und zwar mit Mut. Aber ohne Hass.“