Am 11. Januar 2017 hat in Russland eine ganze orthodoxe Kirchenbewegung das Fest der „Unschuldigen Kinder“ von Bethlehem mit der heutigen Leichtfertigkeit von Abtreibungen in Verbindung gebracht: Metropolit Panteleimon Dolganov von Jaroslawl im Nordosten von Moskau erklärte das Gedenken an die – nach dem Evangelium Matth 2,16-17 – auf Befehl von König Herodes ermordeten Kleinkinder zum „Besinnungstag an das Morden Ungeborener“. Gleichzeitig konnte er staatliche und private Kliniken sowie den Ärzteverband seiner Region an der oberen Wolga dafür gewinnen, an diesem Tag keine Abtreibungen vorzunehmen.
Heinz Gstrein
Die Russische Orthodoxe Kirche gedenkt des Kindermordes von Bethlehem am 29. Dezember, der nach ihrem alten Festkalender auf unseren 11. Januar fällt. In einer Überlieferung ist die Rede von 14‘000 Säuglingen, die von Herodes in der Absicht hingeschlachtet wurden, dabei auch den gerade auf die Welt gekommenen Jesus zu töten.
Bischof greift Vorschlag von evangelikaler Seite auf
Treibende Kraft an der Seite des Metropoliten war Bischof Veniamin Lichomanov von Rybinsk am gleichnamigen Wolga-Stausee. Lichomanov hatte schon 1994, als er die orthodoxe Re-Evangelisation dieses dem christlichen Glauben während der Sowjetherrschaft besonders entfremdeten Gebiets in Angriff nahm, das Problem der Abtreibungen ins Auge gefasst. Er ist auch einer der wenigen russischen Bischöfe, die keine feindselige Haltung zur evangelischen Neuverkündigung in der ehemaligen Sowjetunion einnehmen. Als ebenfalls 1994 die ersten US-Missionare vom „Campus for Christ-cru“ (in der Schweiz: Campus für Christus) eintrafen und die lokale Zeitung „Izvestija“ in ihnen eine Gefahr für die Orthodoxie erblickte, schrieb Lichomanov einen Leserbrief zugunsten des Teams. Auch die Anregung für den „abtreibungsfreien“ Tag soll jetzt zuerst von den Rybinsker Evangelikalen ausgegangen sein. Der orthodoxe Bischof griff ihren Vorschlag auf.
Abtreibungen sind überhaupt im postkommunistischen Russland ein solches Problem, dass fast jeder orthodoxe Beichtvater Frauen gezielt danach fragt. Auch dort, wo vor hohen Feiertagen öffentliche Bussandachten abgehalten werden, steht die Bitte um Vergebung von Abtreibungen meist an erster Stelle. Russinnen, die 25 Abtreibungen hinter sich haben, bis sie in die Wechseljahre kommen, sind keine Seltenheit. In sowjetischer Zeit waren Abtreibungen nicht verboten. Es galt aber als Mangel an kommunistischem Patriotismus, dem Vaterland und der Partei nicht so viele Kinder wie möglich zu gebären. Als Folge davon wurde im staatlichen Gesundheitswesen zwar abgetrieben, doch gab es dafür keine vorgesehenen Mittel. Also weder Narkose noch örtliche Betäubung. Die Dunkelziffer der beim Abtreiben gestorbenen Frauen vor der Wende von 1991 dürfte enorm gewesen sein. Verhütungsmittel gab es so gut wie keine.
Acht bis zehn Abtreibungen bei Frauen um die 50
Russlands Frauen um die fünfzig haben heute im Durchschnitt acht bis zehn Abtreibungen hinter sich – sofern sie nicht gleich nach dem ersten Abbruch unfruchtbar wurden. Je dreieinhalb Millionen ungewollter Schwangerschaften im Jahr enden mit Abtreibungen. Rund zehn Prozent der Frauen sind noch keine zwanzig Jahre alt, Tausende nicht einmal fünfzehn. Auf jede Geburt entfallen statistisch fast drei Tötungen von Ungeborenen.
Der orthodoxe Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland bezeichnet die Abtreibung als „grösstes Problem unserer Gesellschaft“. Ostern 2016 fand eine kirchliche Unterschriftenaktion „Petition für das Leben“ über eine Million Unterzeichnerinnen und Unterzeichner. Geplant ist nun auch von der Russisch-Orthodoxen Kirche, dass sie künftig Brautpaare bei der Hochzeit das Versprechen abnehmen wollen, dass das Paar keine Abtreibung vornehmen wird.