„Tierversuche unterscheiden sich nicht von Menschenversuchen.“ So lautet die Überzeugung von Frau Dr. Regina Möckli, Psychiaterin und Unterstützende der Volksinitiative „Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot“, über die am 13. Februar 2022 abgestimmt wird. Eine steile Behauptung, die eines genauen Blickes bedarf.
Von Ursula Baumgartner
Die Initiative möchte nicht nur Tier- und Menschenversuche in der Schweiz unmöglich machen, sondern sie hat auch ein Importverbot für Produkte zum Ziel, die mithilfe von Tierversuchen hergestellt wurden, sowie die mindestens gleichwertige staatliche Förderung von Forschung, die ohne Tierversuche auskommt. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass kein Tier mehr unnötig leidet.
Die Initiative, die auf St. Galler Bürger zurückgeht und von etwa 80 Organisationen und Unternehmen unterstützt wird, betrachtet Tierversuche als Verbrechen, da Tiere – anders als Menschen – keine Zustimmung zu den Experimenten geben können. Das ist natürlich richtig und darum findet sich auch nur im Humanforschungsgesetz unter Artikel 7 der Absatz „Einwilligung“, der in jedem noch so strengen Tierschutzgesetz überflüssig, ja unsinnig wäre. Während beim Tierversuch die Leidensminimierung im Vordergrund steht, achtet das Humanforschungsgesetz darauf, dass bei der Forschung am Menschen das Wohl des Individuums im Fokus steht und keine Diskriminierung jedweder Art geschieht. Der Gesetzgeber sieht im Gegensatz zu Frau Dr. Möckli also durchaus Unterschiede zwischen Versuchen an Tieren und an Menschen.
Was also ist von der Forderung zu halten, Tier- und Menschenversuche völlig abschaffen zu wollen? Die meisten Menschen sind sich gar nicht bewusst, wie viele Produkte, die sie im Alltag verwenden, an Tieren getestet wurden. Ein Einfuhrstopp für all diese Güter hätte weit reichende wirtschaftliche und medizinische Folgen für die Schweiz. Doch darf der Mensch seinen dem Tier überlegenen Geist und seine technischen Möglichkeiten zum Unwohl des Tieres nutzen oder stehen einem Tier dieselben Rechte zu wie dem Menschen? Ein Freibrief für Tierquälerei darf daraus mit Sicherheit nicht entstehen.
Handlungsmaxime: Refine, Reduce, Replace
Handlungsmaxime von Politik, Pharmaindustrie und Tierschutzverbänden in Bezug auf Tierversuche ist inzwischen das „3R-Prinzip“. Dahinter verstecken sich die Begriffe Refine, Reduce, Replace – zu Deutsch etwa: Optimieren, Reduzieren, Ersetzen. Unter Abwägen zwischen der Belastung der Tiere und dem Nutzen für den Menschen einerseits und der Berücksichtigung der unterschiedlichen Leidensfähigkeit verschiedener Tierarten andererseits wurde seit den 1980er-Jahren ein Rückgang der in Versuchen verwendeten Tiere um etwa 70 Prozent erreicht: Waren es 1983 noch zwei Millionen verwendete Tiere, ging die Zahl 2019 auf „nur“ knapp 600‘000 zurück. Die rechtliche Regelung, dass ein Tierversuch nur bewilligt wird, wenn die Ergebnisse nicht auf anderem Weg erzielt werden können, zeigt offenbar Wirkung. Zudem gilt zu bedenken, dass lediglich ein Bruchteil der Versuche, nämlich ca. drei Prozent, den Tieren schwere Belastungen zumuten. Auf weite Strecken kann es sogar sein, dass es den Tieren besser geht als in freier Wildbahn, da sie regelmässig gefüttert werden, keinen negativen Umwelteinflüssen wie Kälte oder Räubern trotzen müssen und da die Auflagen, unter denen sie gehalten werden, sehr streng sind. So muss z.B. eine Versuchsanordnung geändert oder ein Versuch sogar abgebrochen werden, wenn die Tiere im Laufe einer gewissen Zeit zu sehr an Gewicht verlieren. Für operative Eingriffe erhalten sie Schmerz- und Betäubungsmittel. Sollte eine Tötung der Tiere notwendig sein, muss sie angst- und schmerzfrei durchgeführt werden.
Was ist die Konsequenz des Verbots?
Die Leidensminimierung bei Tierversuchen ist also definitiv ein gutes Ziel und es wurde bereits viel getan, um sie möglichst zu erreichen. Dass dies weiterhin nicht aus den Augen verloren wird, ist richtig und verfolgenswert. Doch die aktuelle Initiative gibt sich nicht mit weniger als dem völligen Verbot aller Versuche zufrieden. Daher muss die Frage gestellt werden: Was ist die Konsequenz, wenn dieses Verbot in Kraft tritt? Tierversuche kommen vor allem für die Forschung und Entwicklung im Bereich Human-, Zahn- und Veterinärmedizin sowie in der biologisch-medizinischen Grundlagenforschung zum Einsatz. Ohne ausreichende Testung von neuen Medikamenten aber käme es unausweichlich zu Menschenversuchen – auch wenn man sie nicht als solche deklariert; doch ein Verabreichen von Präparaten ohne genügende Testung stellt letztlich einen Versuch am Menschen dar.
Ausser der fehlenden Freiwilligkeit der Versuchstiere wird mit der mangelhaften Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen argumentiert: lediglich vier Prozent der aus Tierversuchen erzielten Erkenntnisse liessen sich auf den Menschen anwenden. Vor diesem Hintergrund erstaunt allerdings, dass die Initiative Computersimulationen als Alternative zu Tierversuchen vorschlägt, denn hier muss man sich doch erst recht fragen, ob eine noch so gute Computersimulation jemals aussagekräftigere Antworten liefern kann als ein Versuch an einem anderen Säugetier. Und selbst wenn sie es kann: Auch Simulationen entstehen und verfeinern sich ja nicht von selbst, sondern es sind Programme, die erst aufgrund von Erkenntnissen über Bau und Funktion von Mensch und Tier erstellt werden konnten. Sie stammen also letzten Endes aus der Grundlagenforschung und sind damit eventuell wieder Folgeprodukte von Tierversuchen. Die Redewendung „Da beisst sich die Katze in den Schwanz.“ ist hier also gleichermassen passend wie unpassend …
Als weitere mögliche Alternative zu Tierversuchen werden Operationsabfälle sowie Zell-, Gewebe- und Organkulturen genannt. All dies fällt unter die Kategorie „biologisches Material“, ein Begriff, unter dem Juristen Körpersubstanzen verstehen, die von lebenden Personen stammen.
Doch wieder embryonale Zelllinien?
Es ist zu vermuten, dass es trotz eines eventuellen Menschenversuchsverbots über kurz oder lang wieder embryonale Zelllinien sein könnten, an denen der Grossteil der Forschungen betrieben werden wird. Der Grund dafür ist folgender: Der rechtliche Status des Embryos ist laut europäischem Institut für Bioethik nicht eindeutig geklärt, er gilt weder als Sache noch als Person. Zelllinien, die aus embryonalem Gewebe gewonnen werden, fielen also nicht unbedingt unter das Humanforschungsgesetz. Dieses regelt zwar auch die Forschung an Embryonen, aber explizit nicht an anonymisiertem biologischem Material, zumal letzteres ja auch, wie oben erwähnt, als Substanzen von lebenden Personen definiert wird. Die weitere Forschung an embryonalen Zelllinien, die aus Abtreibungen gewonnen wurden (und werden), würde wohl also auch durch ein völliges Verbot von Menschenversuchen nicht verhindert.
Bei vielen anderen Zell- und Gewebekulturen tritt das Problem der Kontamination mit Bakterien und Viren auf. Dies kann Forschungsergebnisse verfälschen. Auch bei Zellkulturen, die aus Tumorgewebe gewonnen wurden – und häufig sind Operationsabfälle ja genau das –, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie anders reagieren als gesunde Zellen. Doch selbst wenn man an einem komplett funktionsfähigen menschlichen Organ Versuche durchführen könnte und nicht nur an Organkulturen, liesse sich aus diesem Versuch lediglich ableiten, wie dieses Organ z.B. auf neue Medikamente reagiert, nicht aber der restliche Organismus.
Wie hoch also die Übertragbarkeitsrate all dieser Versuche im Vergleich zu den oben erwähnten vier Prozent letztendlich wäre, lässt sich hiermit nicht beantworten.
Solange so viele wichtige Fragen zu den Alternativen noch nicht beantwortet werden können, wäre also ein völliges Verbot von Tierversuchen also durchaus fraglich. Den Tieren dabei jedes unnötige Leid zu ersparen, ist jedoch ein sehr wünschenswertes Ziel.