Obwohl die Texte der EU-Abkommen noch nicht vorliegen, scheint sich eine gewisse Verunsicherung in der Bevölkerung breit zu machen. Warum eigentlich? Eine Rückbesinnung auf die Werte und Erfolgsfaktoren der Schweiz ist gerade jetzt angezeigt, bevor die EU-Verträge veröffentlicht und die politische Debatte definitiv lanciert wird.   

Ein Kommentar von Ralph Studer

Die zunehmende Einbindung in den Binnenmarkt der EU schränke die Spielräume der Schweiz ein, so Urs Wietlisbach, Mitinitiant der „Kompass-Initiative“ („Für eine direktdemokratische und wettbewerbsfähige Schweiz – keine EU-Passivmitgliedschaft“). Immer häufiger sehe sich die Schweiz gezwungen, komplexe und bürokratische Regulierungen zu übernehmen. Dies sind klare Worte eines Schweizer Unternehmers.

Errungenschaften in den Wind schlagen?

Auch wenn bestimmte politische Kreise immer wieder monieren, die Schweiz fahre einen Kurs der „Abschottung“, ist dieser Vorwurf nicht haltbar. Die Schweiz ist vertraglich weltweit sehr gut vernetzt. Sie ist ein Land, das von anderen Staaten weiterhin für ihre internationalen Vermittlungsdienste geschätzt wird. Die bisherigen Vorteile einer verteidigungspolitischen und wirtschaftlich-politischen Eigenständigkeit und Neutralität werden angesichts einer möglichen näheren Anbindung zur EU in den Wind geschlagen. Man hat den Eindruck, dass man die Vergangenheit und die Errungenschaften der Schweiz absichtlich klein macht, um die Bevölkerung für die EU-Anbindung vorzubereiten und einzunehmen. Ein fatale Fehlhaltung.

Missachtung grundlegender Vertragsregeln

Ein aktueller Blick auf die EU zeigt, in welche Gefilde sie steuert: Gemäss dem Stabilitätspakt von Maastricht darf das Staatsdefizit nicht mehr als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Zudem darf der Schuldenstand 60 Prozent des BIP nicht übersteigen. Obwohl dies klare vertragliche Vorgaben sind, hält sich heute kaum mehr ein Land daran. Selbst die EU sorgt nicht für deren Einhaltung, es sei denn, es richtet sich gegen politische Gegner. So geschehen beispielsweise, als die EU-Kommission 2011 den damaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi massregelte, Italien müsse sein Staatsdefizit bis im Jahr 2013 bereinigt haben. Die Europäische Zentralbank scheute sich auch nicht, konkrete Massnahmen anzuordnen wie die Kürzung der Ausgaben beim Staatspersonal und die Senkung der Beamtenlöhne.

Das heutige Frankreich steckt in einer ähnlich desolaten Lage wie Italien damals. Laut Prognose der EU-Kommission bis 2034 wird der Schuldenstand von bereits 115 Prozent auf 139 Prozent klettern, bei einem Defizit von 6,1 Prozent im Jahr 2024. „Dennoch“, so der NZZ-Journalist Albert Steck, „darf der französische Präsident Emmanuel Macron seine Maastricht-widrige Schuldenpolitik ungehemmt weiterführen. Weder die EZB-Präsidentin Christine Lagarde noch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stören sich an diesem eklatanten Verstoss gegen die Vertragsregeln.“

Einstiges Vorzeigeland wird zum „Defizitsünder“

Dies ist jedoch symptomatisch für die gegenwärtige EU-Entwicklung. Die aktuellen Ereignisse im EU-Mitgliedsland Deutschland zeigen, dass der Stabilitätspakt noch weiter in Mitleidenschaft gezogen wird: Der designierte Kanzler Friedrich Merz hat die stabilisierende Schuldenbremse kurz nach den Wahlen bereits ausgehebelt. Wirft selbst Deutschland seine Budgetdisziplin über Bord, welche Signale sendet dies dann an notorische Defizitsünder? „Den Vorwand“, so Steck, „liefert diesmal das Militär – so wie zuvor die Finanzkrise, das Klima oder Corona. Bereits hat die EU-Kommission beschlossen, für die Aufrüstung die Budgetregeln zu sistieren.“ Dieses Vorgehen wird nicht das letzte Mal sein. Die Schuldenpolitik wird kein Ende nehmen. Verträge aus politischen Gründen zu brechen, ist das eine, das andere ist, dass die Politiker damit ihr letztes Vertrauen bei den Bürgern verspielen.

Das Verhalten der EU steht auch im Widerspruch zu ihren eigenen Aussagen. Statt die EU zu stärken und konkurrenzfähig zu machen, führen weitere Schulden gerade zum Gegenteil. Sie schwächen den bereits schwer angeschlagenen Kontinent und die eigene Währung verliert an Wert und Glaubwürdigkeit.

„Gemeinsame Werte“?

Bereits hier zeigt sich, dass die EU und die Schweiz unterschiedliche Werte leben. Während die Schweiz bis anhin auf finanzielle Ausgeglichenheit ihres Budgets und – mit wenigen Ausnahmen – auf Finanzdisziplin setzt, ist dieser Wert in der EU und ihren Mitgliedsstaaten nicht hoch im Kurs.

Obwohl die Befürworter einer näheren EU-Anbindung immer wieder ins Feld führen, dass die Schweiz und die EU die gleichen Werte haben, kann auch anhand anderer Bereiche leicht das Gegenteil aufzeigt werden. Eines der gravierendsten Beispiele hierfür ist sicherlich die Einführung des „Digital Services Act“, welcher in der EU zum „Schutz der Demokratie“ erlassen wurde. Dieser höhlt jedoch gerade das aus, was er vorgibt zu schützen, nämlich das verfassungsmässige Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit.

Zudem sind in der Schweiz Werte wie Vertrauen im Verhältnis Staat-Bürger, echte demokratische Mitbestimmung, Transparenz, Freiheitsrechte, Gewaltentrennung oder Rechtsstaatlichkeit grundlegend verankert, während diese in der EU zunehmend zurückgedrängt werden. Kritisch zu sehen ist auch, dass die EU vermehrt in nationale Demokratien eingreift und den Wettbewerb der Systeme behindert.

Hinzu kommt in der Schweiz die dezentrale und subsidiäre Entscheidungsbefugnis und das von unten nach oben gewachsene genossenschaftliche Staatsverständnis, das die Bevölkerung miteinbezieht und so wesentlich zu einer breiteren Akzeptanz von Entscheidungen beiträgt. Nichts Vergleichbares findet man in der EU, deren Abläufe und Beschlüsse top-down funktionieren, ohne Mitspracherechte in Sachentscheidungen durch die betroffene Bevölkerung. 

Worauf es bei der Entscheidung ankommt

Bei der öffentlichen Debatte in der Schweiz über die EU-Abkommen wird es somit entscheidend sein, sich einerseits der Schweizer Werte und Erfolgsfaktoren bewusst zu werden und sich andererseits die Werte und die Entwicklung in der EU vor Augen zu führen.