Viel wird heute über Demokratie diskutiert. Auch die Corona-Krise hat gezeigt, wie anfällig unsere Demokratie sein kann. Demokratie ist zu einem Allerweltswort geworden. Jeder will für die Demokratie sein. So bekennen sich beispielsweise alle etablierten politischen Parteien in der Schweiz zur direkten Demokratie. Was damit aber konkret gemeint ist, steht selten zur Debatte. Diese Inflation schafft viele Probleme, weil meist vergessen geht, wovon wir wirklich sprechen und worum es genau geht. So halten sich zu den Stichworten Demokratie und direkte Demokratie zahlreiche Mythen, die eine sachliche Diskussion verhindern. Das Thema Demokratie ist nunmehr an einem Scheideweg angelangt.
Urs Vögeli
Für die Schweiz ergeben sich drei Probleme, über die wir vertieft nachdenken sollten. Es geht um aussenpolitische, innenpolitische und gesellschaftspolitische Herausforderungen für die Demokratie, die wir meistern müssen.
Aussenpolitik: Unabhängigkeit, Neutralität und direkte Demokratie gehören zusammen
Die Schweizer Demokratie ist durch aussenpolitische Entwicklungen herausgefordert. Einerseits stellen sich mit dem rasanten und langfristigen Aufstieg Chinas viele Fragen, die auch unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie tangieren. Auf das Thema Überwachung und digitale Kontrolle werde ich später noch eingehen. Hier geht es vielmehr um die Frage, ob die Schweiz ihre Handlungsfähigkeit – und das heisst immer die demokratische Selbstkontrolle – behalten kann im weltpolitischen Gerangel der Grossmächte. Dabei ist es wichtig, die direkte Demokratie in Zusammenhang mit der aussenpolitischen Neutralität und Unparteilichkeit zu verstehen. Nur eine Regierung, die nicht in internationale politische Abhängigkeiten verstrickt ist, kann sich ganz nach dem Willen und den Interessen der eigenen Bevölkerung richten. Im Falle von China dürfen wir nicht vergessen, dass man mit einer kritischen bis ablehnenden Haltung im Fahrwasser der machtpolitischen Interessen der USA fährt. Mit einer naiven und unkritischen Offenheit gegenüber China blendet man umgekehrt deren geostrategischen Ambitionen aus und verkennt den Wertekonflikt in Bezug auf die Themen Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Die Schweiz hat mit ihrer Kultur der politischen Neutralität und der Rückbindung durch die direkte Demokratie und dezentralen Strukturen einen Schlüssel in der Hand, wie sich ein kleines, aber erfolgreiches Land in diesem Machtpoker der Grossmächte offen, innovativ und dennoch unabhängig positionieren kann.
Ähnliches gilt andererseits auch gegenüber der EU. Eine politische Einbindung und Integration in die EU wird zwangsläufig zu einem Rückbau der demokratischen Mitbestimmung in der Schweiz führen. Dies bestätigen inzwischen auch rechtswissenschaftliche Gutachten in Bezug auf das nach wie vor geplante Rahmenabkommen. Deshalb gilt es unsere Demokratie auch in Zusammenhang mit der Aussenpolitik zu lesen.
Innenpolitik: Notstandstrend vs. Demokratie
Innenpolitisch ist die Demokratie direkt durch den Notstandstrend gefährdet. Notstand bedeutet immer für eine gewisse Zeit die Ausschaltung der demokratischen Prozesse. Es gibt für einen Moment auch tendenziell weniger Wettbewerb der Ansichten. Kritik ist dann nicht mehr im Trend. Man will relativ rasch zentralisieren und Verantwortung wird an Experten delegiert. Gerne ist man in einer Krise bereit, Freiheiten aufzugeben und Kontrolle zulassen. In Zeiten von Corona werden auch die digitale Kontrolle und Überwachung salonfähig. Wenn ich mir vorstelle, dass letztes Jahr noch in vielen Orten der Klimanotstand ausgerufen wurde und jetzt erlebbar wird, was Notstand wirklich bedeutet, erhoffe ich mir ein Umdenken. Wir müssen kritisch bleiben. Reflexion muss immer möglich sein. Der Wettbewerb der Ideen und Ansichten darf nicht unterdrückt werden. Unkonventionelle Stimmen müssen sich einbringen können. Wir brauchen den Einbezug von allen Beteiligten und Betroffenen. Es dürfen nicht Einzelne, einzelne Wissenschaftsgruppen oder Interessenvertreter plötzlich ultimativ in der Entscheidungsverantwortung stehen. Es braucht also direkte Demokratie, Partizipation und dezentrale Strukturen, um immer wieder das Nachdenken und Einbeziehen von vielen zu ermöglichen. Das verhindert den Tunnelblick des Notstandes.
Gesellschaftspolitisch: Digitalisierung, Partizipation und Unternehmertum
Die immer weiter zunehmende Vielfalt, Polarisierung und Digitalisierung fordern uns gesellschaftspolitisch heraus. Aber auch die Demokratie wird sich dadurch verändern und steht unter Druck. Ich möchte dabei jedoch die Chancen dieser Entwicklungen betonen. Denn für alle diese Herausforderungen stellen direkte Demokratie und dezentrale Strukturen zukunftsfähige Werte dar, die Spannungen aushalten, Krisen überwinden und Konflikte lösen helfen können. Die Demokratie hat das Potenzial, Vielfalt und Polarisierung zu kanalisieren und auszubalancieren. Demokratie nicht als reine Mehrheitsherrschaft verstanden, sondern als möglichst breite Machtverteilung und direkte Mitsprache in grossen wie in kleinen Fragen des Politischen, kann eine Gesellschaft krisenresistent machen. Schliesslich führt diese Demokratie auch zu Reflexion und Integration. Es führt zum direkten Bürgerengagement und Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwesen.
So verstehe ich auch den Wert des Unternehmertums als Partizipation am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben. Es geht um proaktiven Gestaltungswillen, Kreativität und Engagement, die einer passiven und blinden Staats- und Politikgläubigkeit sowie Zentralismus diametral entgegenstehen. In diesem Sinne sollten wir auch die Digitalisierung nutzen und kanalisieren. Dabei geht es nicht um E-Voting, sondern darum, wie wir beispielsweise in einer Gemeinde oder Stadt die Demokratie, das heisst der Einbezug der Bevölkerung und Gesellschaft, mit digitalen Mitteln innovativer, spielerischer und umfassender gestalten können. Dabei könnten neue Formen von interaktiven Konsultations- und Vernehmlassungsverfahren ins Spiel kommen oder der aktivere Einbezug von Vereinen, Verbänden und Bevölkerung bei der Vorbereitung von Gemeindeversammlungen und Parlamentssitzungen. Es muss uns insbesondere gelingen auch für die jüngere Generation die demokratische Mitsprache interessant, ansprechend und sinnstiftend zu gestalten. Hier wünschte ich mir manchmal etwas mehr Kreativität und Unternehmergeist, um die Demokratie voranzubringen und fit zu machen für die zukünftigen Herausforderungen. Krisen, Epidemien, digitale Transformation, Vielfalt, Polarisierung und geopolitische Veränderungen können wir mit einer Rückbesinnung auf die Werte der direkten Demokratie, dezentraler Strukturen und Unternehmertum meistern.
Urs Vögeli ist Politikwissenschaftler und Gründer des „Forum Menschenrechte und Demokratie“.
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