Seit Dezember 2022 blockiert Aserbaidschan den Zugang zur armenischen Enklave Berg-Karabach über den Latschin-Korridor. Die Vorräte an lebensnotwendigen Gütern und Medikamenten sind praktisch aufgebraucht, 120’000 Menschen, davon 30’000 Kinder, drohen zu verhungern. Die „Gesellschaft Schweiz-Armenien“ führte am Samstag, den 2. September 2023, eine Kundgebung in Lausanne durch.
Im Jahr 1991 löste sich Berg-Karabach durch einen Beschluss der Sowjetunion vom 2. September 1991 von Aserbaidschan, was am 12. Dezember 1991 durch ein Volksreferendum bestätigt wurde. Doch völkerrechtlich gehört die „Republik Arzach“ weiterhin zum moslemischen Aserbaidschan, da sie international nicht anerkannt wird – selbst Armenien hat es bisher nicht gewagt, die Republik Arzach völkerrechtlich anzuerkennen.
Um Berg-Karabach gab es immer wieder Kriege. Der letzte begann im Jahr 2020 durch einen Angriff von Aserbaidschan. Auf dessen Seite beteiligten sich auch türkische Truppen; zwischen Juli und November starben rund 7000 Soldaten, über die Zahl der zivilen Opfer gibt es keine zuverlässigen Informationen.
Blockade durch Aserbaidschan
Nach dem Krieg von 2020 ist der „Latschin-Korridor“, eine schmale Überlandstrasse, die einzige Verbindung von Armenien in die Enklave Berg-Karabach. Seit dem 12. Dezember 2022 blockiert Aserbaidschan militärisch diesen wichtigen Durchgang. Die Aufforderung des Internationalen Gerichtshof in Den Haag zur Aufhebung der Sperrung ignoriert Aserbaidschan.
Zunächst waren humanitäre Hilfstransporte durch das Internationale Rote Kreuz und die seit 1994 stationierten russischen Friedenstruppen möglich; seit Mitte Juni 2023 dürfen aber keine Hilfslieferungen mehr den Latschin-Korridor passieren. Umgekehrt haben russische Friedenstruppen einen Konvoi des Aserbaidschanischen Roten Halbmonds, der von Aserbaidschan aus Lebensmittel in die Bergregion bringen wollte, am Zutritt gehindert.
Nach den Angaben des Aussenministers der Republik Arzach, Sergey Ghazaryan, sind bereits 95 Prozent der Bevölkerung unterernährt. Lokale Medien berichten seit Mitte August von ersten Hungertoten. Die Rate der Fehlgeburten hat sich seit Beginn der Blockade verdreifacht. Fast alle Wirtschaftszweige sind zum Erliegen gekommen. Seit Monaten schon ist die Strom- und Gasversorgung aus Armenien unterbrochen. Am 18. August 2023 wurde auch die Glasfaserleitung zwischen Armenien und der Republik Arzach gekappt. Inzwischen wird auch das Wasser knapp.
Während keine Güter mehr nach Berg-Karabach eingeführt werden dürfen, können umgekehrt die dortigen Bewohner Berg-Karabach kaum mehr verlassen. Selbst Patienten, die unter dem Schutz des Internationalen Roten Kreuzes den Latschin-Korridor passieren möchten, gehen Gefahr, verschleppt zu werden. Stillenden Müttern ist es nicht erlaubt, ihre Kinder mitzunehmen.
Die Hintergründe in Politik und Wirtschaft
Hinter dem Streit zwischen Armenien und Aserbaidschan stehen auch politische und wirtschaftliche Interessen: Russland ist die traditionelle Schutzmacht von Armenien. Dieses ist durch den Ukrainekrieg geschwächt, weshalb die armenische Regierung in den letzten Monaten keine wirkliche Macht mehr demonstrieren konnte. Umgekehrt wird Aserbaidschan von der Türkei unterstützt und profitiert zudem von Öl- und Gaslieferungen nach Europa – insbesondere nachdem russische Lieferungen wegen des Angriffskriegs sanktioniert sind. Die Europäische Union sieht sich von diesen Lieferungen abhängig und hat erst im Juli 2022 ein Abkommen mit Baku über die Verdopplung der Gaslieferungen abgeschlossen.
Die Europäische Union steht gleichzeitig nach eigenen Angaben seit Wochen in ständigem Kontakt mit den Regierungen in Aserbaidschan und Armenien sowie mit Vertretern der armenischen Bewohner Berg-Karabachs und versucht, eine Aufhebung der Blockade zu erreichen.
Auch der Europarat hatte am 28. August 2023 freien Zugang zur Bevölkerung von Berg-Karabach verlangt. Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan müssten Anstrengungen unternehmen, um auf dem Weg zur Versöhnung voranzukommen, mahnte die Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatovic in Strassburg. Beide Staaten gehören dem Europarat an.
Kirchliche Bemühungen
Ende August haben sich mehr als 40 Metropoliten, Erzbischöfe, Bischöfe und weitere Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlichster Kirchen in den Vereinigten Staaten in einem gemeinsamen Schreiben an US-Präsident Joe Biden gewandt, seinen Einfluss geltend zu machen, um „ein sofortiges Ende der verheerenden aserbaidschanischen Blockade des Latschin-Korridors zu erwirken“. Präsident Biden müsse sich um eine sofortige diplomatische Lösung bemühen, auch in Zusammenarbeit mit internationalen Partnern und den Regierungen Aserbaidschans und der Türkei.
Gleichzeitig hat gemäss „Pro Oriente“ der Metropolit Isaak (Barakat), das Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Gläubigen in Deutschland und Österreich, die zum Patriarchat von Antiochien gehören, einen eindringlichen Appell an die Regierung von Aserbaidschan verfasst, den Latschin-Korridor freizugeben. Die fundamentale Würde jedes Menschen, unabhängig von seiner Herkunft oder seines Glaubens erfordere, „dass wir uns für die Verteidigung der Menschenrechte und humanitären Werte einsetzen“, so der Metropolit wörtlich.
Es droht ein Völkermord
Inzwischen warnen zahlreiche Experten und Organisationen vor einem Genozid an den christlichen Armeniern in Berg-Karabach. So schreibt z. B. der ehemalige langjährige Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof, Luis Moreno Ocampo, in seinem am 7. August 2023 veröffentlichten Expertengutachten, das „Corrigenda“ veröffentlich hat: „Es gibt keine Krematorien, und es gibt keine Machetenangriffe. Der Hunger ist die unsichtbare Waffe des Völkermordes. Wenn sich nicht sofort etwas ändert, wird diese Gruppe von Armeniern in wenigen Wochen vernichtet sein.“
Auch Sarkis Shahinian von der „Gesellschaft Schweiz-Armenien“ zeigt sich überzeugt: „Wir sind Zeugen des Beginns eines Völkermords.“ Er fordert: „Eine Luftbrücke zwischen Eriwan und Stepanakert, wie sie die Kommission für auswärtige Angelegenheiten des Ständerats vom 9. Januar 2023 forderte, muss sofort unter der Ägide der UNO eingerichtet werden.“ Die Schweiz sei seit dem 1. Januar dieses Jahres Mitglied des UNO-Sicherheitsrats und habe somit die Möglichkeit zu intervenieren. Christian Solidarity International (CSI) hat sich diesbezüglich schon zweimal an den Bundesrat gewandt. Mit der Demonstration in Lausanne wurde ein weiteres Zeichen gesetzt.
Quelle: SwissCath