Trotz kontroverser Debatte – wie geht es Kindern unter drei Jahren in der Krippe wirklich? Anhand wissenschaftlicher Fakten und erschütternder Fallbeispiele schildert Hanne K. Götze in ihrem Buch „Die Sehnsucht kleiner Kinder“ (vgl. auch: FOCUS online), warum sie Eltern dringend rät, bei ihren Kindern zu bleiben und die Arbeit zurückzustellen.
Die als Stillberaterin tätige und in Familienverbänden engagierte Autorin erachtet es für die gesunde Entwicklung eines Kindes als entscheidend, dass es mit seinen Eltern „in spürbarer Nähe“ leben kann. Doch herrsche ein gesellschaftliches Klima vor, das ganz andere Erwartungen an Mütter habe als ihre Kinder. „Die Mutterliebe und das Da-Sein werden kleingeredet, ja für unnötig bis schädlich gehalten, hält man dadurch doch sein Kind von der vermeintlichen ‚Bildung‘ in der Krippe fern.“ Eine lückenlose Erwerbstätigkeit der Mütter – und damit beider Elternteile – sei zum Ideal erklärt worden.
Die für Götze entscheidende Frage lautet: „Kann in einer Krippe die Sehnsucht kleiner Kinder, die ihnen instinktiv eingegeben ist, gestillt werden?“ Nur wenn die Mama räumlich und emotional anwesend sei, fühle sich für ein Kind das Leben richtig an; sei sie abwesend, fühle es sich hingegen total falsch an, erklärt Götze.
Hängen über dem Abgrund
„Wenn die Mama fort ist, springt im Kind der Überlebensinstinkt ‚Bindung‘ auf Alarmstufe Rot: Die Mama, die ich liebe und die mich liebevoll umsorgt, ist weg! Die Abwesenheit der Mutter löst Existenzangst aus.“ Dies bestätigen auch Götzes eigene schmerzhafte Erlebnisse, die sich an ihre kurze Krippenzeit ab 2 1/4 Jahren in der ehemaligen DDR erinnert: „Wenn meine Mutter mich verliess, schrie ich bis zur Erschöpfung. Es war für mich wie ein Sturz ins Bodenlose; ich kam mir vor, als hinge ich über einem Abgrund, um jeden Augenblick losgelassen zu werden. Ein Gefühl grosser Verlorenheit erfasste mich.“ Ihr habe dieses Erlebnis eine schwere Wunde geschlagen, die lange gebraucht habe, um zu verheilen. „Seelische Narbenschmerzen spüre ich auch heute noch, wenn diese Wunde berührt wird – wenn ich miterlebe, wie Kinder abgegeben werden und nach ihrer Mama schreien, wenn Politiker von ‚Bildung in der Krippe‘ schwärmen …“
Jahrelang hoffte Götze, dass andere ihre Krippenzeit nicht so empfunden haben bzw. empfinden wie sie. Doch als sie selbst Kinder hatte, begann sie, daran zu zweifeln. Auch fand sie durch Studien bestätigt, dass der Hauptstress eines betreuten Kindes unter drei Jahren nachweislich die Trennungssituation ist.
„Die frühe Kindheit ist das Zeitfenster für die sichere Bindung. (…) Die Kinder begreifen weder, wohin die Mutter geht, noch, wie lange es bis zu ihrer Rückkehr dauert. Ihr Lebensgefühl besteht aus dem Augenblick. Deshalb können sie es weder geistig noch seelisch erfassen, wenn die Mama sagt, sie komme ‚gleich‘ oder in ein paar Stunden wieder. Noch viel weniger können sie nachvollziehen, warum sie geht. Sie kennen schliesslich die komplizierte Welt der Erwachsenen noch nicht.“
Trotz Professionalität und schönem Spielzeug
Kinder empfänden das Weg-Sein der Mutter als einen endgültigen Fakt. „Sie haben Liebeskummer, denn ihre erste grosse Liebe hat sie verlassen. Sie trauern. Es ist wie ein Warten ohne Hoffnung auf ein Ende.“ Eine Frühpädagogin aus Sachsen-Anhalt habe ihr kürzlich Folgendes geschrieben: „Die vermeintlich frühe Sozialisation der so jungen Kinder ist von Schreien und Weinen begleitet, von merklicher Apathie, teils extremen Ängsten gegenüber Fremden und durch spürbare Teilnahmslosigkeit (…). Eine beobachtbare, deutlich hervortretende Trauersituation.“ Manche Kinder sässen wie Klammeräffchen auf dem Schoss der Erzieherin und weinten stundenlang vor sich hin. Es biete sich ein Bild des Elends und der Verlassenheit, so die Frühpädagogin. An diesem Trennungsschmerz können Götze zufolge auch eine gute Ausbildung der Erzieherinnen und schönes Spielzeug nichts ändern.
Doch die Trennungssituation sei bei weitem nicht der einzige Stressfaktor in der Krippe. Auch die Erzieherin selbst zähle dazu, weil sie fremd sei. Dazu kämen die vielen Kinder: „Ohne Mama oder den Papa im Rücken ist diese Situation für das Kind unübersichtlich und orientierungslos.“ Und der damit verbundene Lärmpegel, der Studien zufolge die Gehirnentwicklung beeinträchtigen könne. Weitere Stressfaktoren sind laut Götze die oft viel zu hohen Betreuungsschlüssel in deutschen Kitas sowie die häufigen Erzieherwechsel wegen Krankheit, Urlaub oder Schichtdienst der Angestellten.
Das Ringen der Mütter
Als „erschütternden Einblick in die Lage von Krippenkindern“ verweist die Autorin auf die vom Psychiater Serge Sulz veröffentlichten Berichte von Müttern. Diese erzählen, „wie sie die Wesensveränderungen und das Weinen der Kleinen wahrnahmen, wie sie dennoch auf die Erzieherinnen hörten, die ihnen sagten, dass das normal sei und vergehen würde, wie ihnen während der Eingewöhnungsphase ihres Kindes auch die Not anderer Kinder auffiel und dass sie oft nur durch Zufall erfuhren, wie es ihren Kindern wirklich ging.“ Die Mütter „beschreiben das Ringen mit ihrem Gefühl, dass dies alles wohl so nicht richtig sein könne, und den Erwartungen unseres gesellschaftlichen Klimas, ehe sie genug Kraft dazu hatten, ihr Kind wieder zu sich nach Hause zu holen und den Beruf noch einmal zurückzustellen.“
Als weiteres grosses Problem beschreibt Götze auch die mangelnde persönliche Zuwendung pro Kind. „Erzieherinnen haben meist nicht nur zu viele Kinder zu betreuen, es sind eben auch nicht ihre eigenen. Sie haben nicht die exklusive innere Kompetenz für das individuelle Kind, die eine Mutter durch ihre Bindung hat bzw. erlangen kann. Auch ist ihr Hormonhaushalt nicht darauf eingestellt. Ihr Verhältnis zu den Kindern ist ein Dienstverhältnis, das nach Feierabend endet.“ Die Krippenforscherin Lieselotte Ahnert sehe bei ihnen ein gruppenorientiertes Betreuungsverhalten, während eine Mutter individuell auf ihre Kinder eingehe.
Zudem müssen laut Götze die Kinder mit Krippeneintritt ihren individuellen Lebens- und Bedürfnisrhythmus an die Abläufe in der Einrichtung sowie an die Arbeitszeiten der Eltern anpassen. Letztere richteten sich jedoch vorwiegend nach den Interessen der Arbeitgeber, nicht nach den Bedürfnissen der Kinder. Dies führt u.a. zu folgender Schwierigkeit, die eine Krippenerzieherin aus Mecklenburg-Vorpommern beschreibt: „Schlafengehen kann nicht individuell gestaltet werden. Wird ein Kind zu früh wach – kriegen die anderen nicht genug Schlaf. Am Nachmittag löst sich dann die Gruppe auf, weil einige Kinder abgeholt werden. Die Kinder, die länger bleiben müssen, kommen mit den anderen Kindern der Einrichtung in den Spätdienst: d. h. wieder neue Kinder – wieder eine neue Erzieherin. Ab einer gewissen Zeit, ca. ab 16.00 Uhr, stehen die Kinder z. B. am Zaun und warten nur noch oder weinen schon nach der Mama.“
„Kein Kind würde sich eine Krippe ausdenken“
Was der Krippenalltag für ein Kind bedeutet, fasst Götze so zusammen: „Es muss jeden Tag aufs Neue mit der Trennung fertigwerden. Jedes Unwohlsein, jedes ‚Böckchen‘, jedes Aua, jeder Kummer wegen eines weggenommenen Spielzeugs usw. muss immer vor ‚Publikum‘ und sozusagen bei fremden Leuten durchgestanden werden. Die Signale, die es aussendet, werden kaum wahrgenommen oder verstanden. Die Mama ist nicht da. Und die Erzieherin, an die es sich möglicherweise langsam gewöhnt hat, ist auch nicht immer da. Ausserdem gibt es noch so viele kleine Konkurrenten um ein wenig Zuwendung. Das ist Stress pur: Die Kinder müssen sich den ganzen Tag lang auf einer höheren emotionalen Reifestufe bewegen, als sie tatsächlich sind.“
Gestützt auf Forschungsergebnisse geht Götze auch auf die gravierenden kurz- und langfristigen Folgen dieser tagtäglichen Belastungssituation ein. „Chronische Stressbelastung ist im Kindesalter die biologische Signatur der Misshandlung“, zitiert Götze den Kinderneurologen Rainer Böhm. Kleinkinder dauerhaftem Stress auszusetzen, sei angesichts der Stressforschung „unethisch, verstösst gegen Menschenrecht, macht akut und chronisch krank“.
Darum will Götze junge Eltern ermutigen, „ja geradezu bitten, ihrem Kind ihre liebevolle Nähe zu schenken und so lange wie möglich bei ihm zu bleiben“ und „liebevoll abzuwarten“, bis das Kind „die innere Reife erlangt hat, eine zeitweilige Trennung (…) zu verkraften“. Von der Politik aber fordert Götze eine Kursänderung und die Schaffung bindungsfreundlicher Rahmenbedingungen für junge Familien. „Denn wenn man die Kleinen schon befragen könnte, dann würden wohl 100 % bei ihrer Mama sein (und bleiben) wollen.“
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Eine Entscheidungshilfe für Eltern, ab wann und wie viel Fremdbetreuung ihre Kinder vertragen, bietet auch die Kita-Ampel.