Mit der Einnahme der Hauptstadt Damaskus durch das islamische Bündnis zu Befreiung der Levante (Haiʾat Tahrir asch-Scham HTS) und verbündete Milizen steht Syrien an der Schwelle einer neuen Ära – doch was viele als „Befreiung“ feiern, könnte der dramatische Auftakt zu Chaos, Repression und weiterer Instabilität sein. Die geopolitischen Wellen dieser Entwicklung werden nicht nur die Region erschüttern. Sie werden auch in Europa spürbare Auswirkungen haben.
Von M. Hikmat
Am Sonntag, 8. Dezember 2024 verkündete HTS-Anführer Abu Mohammed al-Dscholani euphorisch: „Wir haben eine neue Ära für Syrien eingeläutet.“ Doch die Frage bleibt, ob diese „Ära“ tatsächlich eine Verbesserung oder nur ein neues Kapitel der Unterdrückung darstellt. HTS, ursprünglich ein syrischer Zweig von Al-Qaida, hat versucht, sich von seinen dschihadistischen Wurzeln zu distanzieren. Doch die Vergangenheit bleibt ein schwerer Schatten.
Die „Befreiung“ und ihre düstere Realität
Die Strassen von Damaskus mögen von Jubelrufen widerhallen, doch die brennenden Ruinen und zerbombten Gebäude zeugen von einem Land, das tief in seiner Krise gefangen ist. „Die Rückkehr zur Normalität scheint ferner denn je“, kommentiert der Politikwissenschaftler Thomas Pierret. Für viele Syrer bedeutet der Machtwechsel nicht Hoffnung, sondern Angst vor einem Regime, das durch Brutalität und ideologische Strenge geprägt ist.
Ein Radikaler auf dem Weg zum Staatsmann?
Abu Mohammed al-Dscholani, geboren als Ahmed al-Scharaa im Jahr 1982 in Damaskus, ist ein zentraler Akteur des jüngsten Machtwechsels in Syrien. Einst Anführer der Al-Nusra-Front, dem syrischen Ableger von Al-Qaida, war er seit der Abspaltung von Al-Qaida im Jahr 2016 eifrig darum bemüht, sein Image vom Dschihadisten zum politischen Führer zu wandeln.
Thomas Pierret von Frankreichs „Nationalem Zentrum für wissenschaftliche Forschung“ CNRS (Centre national de la recherche scientifique) betont: „Er bleibt ein pragmatischer Radikaler. Seine Rhetorik hat sich zwar gemildert, aber seine Ziele sind unverändert.“ Unter seiner Führung hat die HTS in Idlib ein Verwaltungssystem etabliert, das militärische Kontrolle mit grundlegender ziviler Administration kombiniert. Doch wird die Gruppe international wegen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen kritisiert.
Das gewandelte Auftreten al-Dscholanis zeigt sich deutlich: Der einstige Kämpfer mit Turban und Kalaschnikow tritt nun in militärischer Uniform auf und sucht den Dialog mit westlichen Medien. Dennoch bleibt sein Image ambivalent. Der Nahost-Experte Aron Lund von „The Century Fundation“ aus New York, die sich auf die menschlichen Auswirkungen der globalen Politik konzentriert und forscht, merkt an: „Er sagt, was im Moment politisch klug ist.“ Ein Beispiel dafür sei sein Appell an die christliche Gemeinschaft in Aleppo, keine Repressalien fürchten zu müssen. Lund fügt jedoch hinzu: „Ist er völlig aufrichtig? Sicherlich nicht.“
Zwischen Pest und Cholera: Die Wahl der Syrer
Der Sturz von Baschar al-Assad, der Syrien über Jahrzehnte mit eiserner Faust regierte, stellt einen historischen Wendepunkt dar. Doch die Machtübernahme durch HTS lässt viele Syrer das Regime von Assad nicht mehr nur als Unterdrückung, sondern als eine stabilere Alternative erscheinen.
Ein syrischer Offizier schilderte, wie „tausende Gefangene aus den Kerkern befreit wurden“ – ein Bild des Umsturzes, das Hoffnung und Angst zugleich weckt. Wer wurde befreit? Welche Kräfte wurden entfesselt? Diese Fragen verdeutlichen, wie sehr die syrische Gesellschaft zwischen der Gefahr radikaler Milizen und der Repression eines Diktators zerrissen ist.
Die Gefahr einer erneuten Fluchtwelle
Mit der Machtübernahme durch HTS droht eine Katastrophe, die weit über Syriens Grenzen hinausreicht. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, wie Konflikte im Nahen Osten direkte Auswirkungen auf Europa haben. Bereits 2015 flüchteten Millionen Syrer nach Europa, was tiefgreifende politische und gesellschaftliche Spannungen auslöste.
Die „Flut der Unsicherheit“ könnte erneut Europa erreichen. Vor allem christliche Minderheiten und andere religiöse Gruppen, die unter HTS besonders gefährdet sind, könnten zur Flucht gezwungen werden. „Die Machtübernahme durch HTS könnte das Ende der jahrtausendealten christlichen Präsenz in Syrien bedeuten“, warnt der Nahostexperte Pierre-Jean Luizard gegenüber Radio Vatikan.
Ein doppeltes Schwert: Terror und Migration
Neben der Gefahr einer islamischen Migrationswelle wächst die Bedrohung durch islamischen Terrorismus, denn nicht nur gefährdete Minderheiten steuern den Weg nach Europa an. Obwohl HTS erklärt hat, sich auf nationale Angelegenheiten konzentrieren zu wollen, bleiben Zweifel. Radikalisierte Muslime, die nach Europa zurückkehren, oder neue Netzwerke könnten Europa bedrohen, insbesondere wenn sich die Sicherheitslage in Syrien weiter verschlechtert.
Die aktuelle Lage in Syrien, geprägt von der Machtübernahme durch die islamistische HTS, erinnert in erschreckender Weise an die Kontrollübernahmen des Islamischen Staates (IS) im Jahr 2014. Die damit verbundenen Folgen von Instabilität, Unterdrückung und Gewalt könnten heute wie damals eine Flüchtlingswelle nach Europa auslösen, mit ähnlich gravierenden politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen wie 2015.
„Die Kontrolle durch HTS wirft Fragen auf, ob Syrien jemals wieder das Licht von Stabilität und Sicherheit sehen wird“, kommentiert der Nahostforscher Joachim Krause in den Medien. Der Zerfall der politischen Ordnung in Syrien könnte Extremismus erneut Raum bieten, ähnlich wie der Aufstieg des IS vor einigen Jahren.
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