Praktisch überall, wo der Islam die Mehrheitsreligion darstellt, erweist er sich – auch in Vierteln europäischer Grossstädte – als totalitäre Ideologie, die Gläubige und Ungläubige gleichsam unter das Joch der Scharia zwingt. Dem gegenüber propagieren liberale Kreise eine „Offene Gesellschaft“ à la Karl Popper, die keine Werte als unveränderbar voraussetzt und sich nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum entwickeln soll. Die Gefahr dieses Gesellschafsmodells, einen Willkürstaat hervorzubringen, ist jedoch gross. Ein möglicher Weg zwischen den beiden Extremen weist das Böckenförde-Diktum von 1976, das an Aktualität nichts eingebüsst hat: „Der freiheitlich, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“
Von Dominik Lusser
Dieses berühmte, vom deutschen Staatsphilosophen und späteren Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte Diktum besagt, dass der freiheitlich säkulare Staat nur leben kann, „wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“ Böckenförde konkretisierte 2010 seine Aussage dahingehend, dass eine freiheitliche Ordnung ein verbindendes Ethos braucht, das sich letztlich aus Quellen speise wie Christentum, Aufklärung und Humanismus, jedoch nicht automatisch aus jeder Religion.
Euro-Islam?
Dennoch versucht der ehemalige Bundesrichter Giusep Nay in der aktuellen Debatte um die öffentlich-rechtliche Anerkennung des Islam in der Schweiz das Böckenförde-Diktum als Argument für die Anerkennung islamischer Strukturen ins Feld zu führen. Der theologische Ehrendoktor der Uni Luzern und Schutzherr des dortigen Zentrums für Religionsverfassungsrecht vertritt die Auffassung, dass der Staat gerade auf jene gesellschaftlichen Kräfte besonders angewiesen ist, welche für Werte einstehen, ohne die keine Demokratie funktioniert. Darum sollten vom Staat alle gesellschaftlichen Kräfte gefördert werden, welche jene Werte pflegen und weitergeben, die als Grundlage einer freiheitlichen Rechtsordnung unverzichtbar sind. Dass Nay aber auch den Islam zu diesen staatstragenden Kräften rechnet, zeugt sowohl von Ignoranz der aktuellen poltischen Entwicklung wie auch von religionsphilosophischer Unkenntnis. Nay ist diesbezüglich Vertreter eines unter links-orientierten Christen weit verbreiteten Phantasmas, wonach sich alle Weltreligionen – ganz im Sinne von Lessings Ringparabel – in gleicher Weise für Friede, Gemeinwohl und Gerechtigkeit einsetzen, und demnach praktisch austauschbar sind.
Totalitäre Religion
Eine realistischere Sicht des Islam vertritt Blick am Sonntag-Kolumnist Frank A. Meyer, der im Sommer 2014 in seinem Artikel „Totalitäre Religion“ den Islam als eine totalitäre Religion mit politischem Herrschaftsanspruch beschrieb, welche die „freie Gesellschaft des christlich-jüdischen Kulturkreises“ prinzipiell ablehnt. Meyer räumt mit einem Irrtum auf, an dem die westliche Debatte über den Islam spätestens seit dem 9/11 krankt. Es geht um die von Linken beharrlich und wider alle Fakten verfochtene Unterscheidung zwischen einem friedliebenden Islam und einem bösen Islamismus. In Wirklichkeit beansprucht der Islam Macht sowohl über den Gläubigen wie die Gesellschaft, also totale Macht über das menschliche Leben: „Der Islam sichert das gesellschaftliche Gefängnis hermetisch ab, bis hinein in die Seele des Menschen, so dass er seine Unterwerfung als Glaubensakt erfährt. Tief verschleierte Frauen, die erklären, sie stülpen sich Burka, Tschador und Hidschab freiwillig über, liefern dazu das Sinnbild.“ Dass eine Religion, die ihrem Wesen nach totalitär ist, nicht das gesuchte ethische Fundament einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft sein kann, braucht keiner weiteren Erklärung.
Offene Gesellschaft
Dem Islam, den er als „reaktionäre Zeitmaschine“ bezeichnet, stellt Meyer die moderne und freie Zivilisation des jüdisch-christlichen Kulturkreises als Norm gegenüber! Diese bedeute blühende Forschung, Wissenschaft und Literatur, Philosophie und Kunst und überhaupt die Lust an Veränderung und Entwicklung. Das Resultat davon sei das, was der österreichische Philosoph Karl Popper – für Meyer der grösste Philosoph der modernen Demokratie – die „offene Gesellschaft“ genannt habe: eine pluralistische Gesellschaft, die sich nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum entwickelt. So weit so gut! Meyers scharfsinniges Essay lässt aber die ganz zentrale Frage offen, wie es denn um das Verhältnis dieser offenen, säkularen Gesellschaft zum Christentum steht. Er spricht der westlichen Zivilisation, die sich in einem Jahrhunderte dauernden Prozess zur tatsächlichen Trennung von Politik und Religion durchgerungen hat, zwar einen Bezug zur Religion zu, wertet diesen aber eher als historisch-zufällig denn als bleibend konstitutiv für das Fortbestehen unserer Gesellschaftordnung. In Meyers Position erscheint die vollständig von der Religion emanzipierte Gesellschaft als anzustrebendes Ideal, von dem muslimische Gesellschaften eben noch 300 Jahre Entwicklung entfernt sind.
Was Popper, dessen offene Gesellschaft religiös absolut neutral sein soll, nicht hinreichend bedacht hat, ist die Bedeutung gemeinsamer moralischer Werte, wo immer Menschen zusammen leben. Der deutsche Publizist und Historiker Joachim Fest wandte daher ein, dass die offene Gesellschaft gemäss ihrer liberalen Grundauffassung nicht in der Lage ist, den notwendigen Minimalkonsens in Bezug auf Grundwerte herzustellen und zu erhalten, den das Böckenförde-Diktum als unabdingbar beschreibt. Stattdessen würde sie wie keine andere Gesellschaftsform auch ihren Gegnern Raum bieten, an der Zerstörung der offenen Gesellschaft zu arbeiten. Gegenüber utopischen Ideologien sei sie zudem aufgrund ihrer „Inhaltsleere“ argumentativ im Nachteil.
Totalitärer Staat
Mit Sicherheit liegt hierin einer der Gründe dafür, wieso der klassische Liberalismus gesellschaftspolitisch immer mehr zum Handlanger linker Ideologien wie dem heute unter dem Deckmantel des „Gender Mainstreaming“ grassierenden Kulturmarxismus verkommt, wogegen sich Popper sicher energisch gewehrt hätte. Dass mit der Behauptung der völligen Konstruierbarkeit von Geschlecht, Familie und der Deregulierung aller Sexualnormen auch die Freiheit des Menschen auf dem Spiel steht, haben viele Liberale noch nicht begriffen. Geblendet von den vermeintlichen Freiheitsräumen, welche die experimentierfreudige Postmoderne dem Individuum verspricht, disqualifizieren sie jede Kritik am ethischen Relativismus als Dogamtismus, Intoleranz und Angriff auf die offene Gesellschaft.
Gerade diese Tendenz, die immer mehr auch Züge einer „Diktatur des Relativismus“ annimmt, macht deutlich, dass – um mit Robert Spaemann zu sprechen – der Verzicht auf nicht disponible Gewissheiten die Voraussetzung des Totalitarismus nicht beseitigt. Man könne nämlich den Totalitarismus durchaus auch als Experiment betrachten, was ja – mit Blick auf den weltweit angelegten genderistischen Menschenversuch – heute tatsächlich auch geschieht. Die offene Gesellschaft kann, so Spaemann, vielmehr nur dann Bestand haben, wenn ihre Offenheit auf Überzeugungen gründet, die ihrerseits nicht zur Disposition stehen, also nicht hypothetisch sind. Wo anderseits die Gesellschaft – und sei es in der Meinung, in grösstmöglicher individueller Freiheit zu leben – mangels innerer Ordnungsprinzipien in ein Chaos verfällt, ruft sie automatisch einen totalitären Staat hervor, wie dies Böckenförde nahelegt: Der Staat kann die inneren Regulierungskräfte der Gesellschaft „nicht von sich aus, das heisst mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
Christliche Weltlichkeit
Was kann von einer christlichen Position aus zu dieser Entwicklung gesagt werden? Der christliche Beitrag zur westlichen Zivilisation besteht erstens nicht nur negativ in einem durch historische Erfahrung gereiften Verzicht auf politische Macht, sondern positiv darin, dass das Christentum von Anfang an der geistige Nährboden war, auf dem Europa mit seiner Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion und Weltlichkeit erst gedeihen konnte. Zweitens hat das Christentum im Unterschied zum Islam neben dem Glauben immer auch die menschliche Vernunft als vollwertige Erkenntnisquelle anerkannt und verteidigt.
Nicht nur Muslime, auch Christen haben, wie der katholische Theologe und Staatsphilosoph Martin Rhonheimer kürzlich in der NZZ schrieb, „in der Vergangenheit gemordet und gebrandschatzt.“: Beschäftigt man sich jedoch mit den ursprünglichen Quellen des Christentums, etwa den Evangelien, findet man Sätze Jesu wie ‚Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört‘ oder ‚Alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen‘. Zur Gründungsidee des Christentums gehören gemäss Rhonheimer die Scheidung von Religion und Politik, die Ächtung physischer Gewalt und das Gebot der Feindesliebe. „Die christlichen Kirchen konnten für Prozesse der Selbstreinigung immer auf ihre Ursprünge rekurrieren und, sich an ihre Gründungsidee erinnernd, historischen Ballast abwerfen. Der Islam müsste sich für solche Selbstreinigung – gerade umgekehrt – von seiner Gründungsidee distanzieren, sein politisch-religiöses Doppelwesen aufgeben und sich damit in seiner religiösen Substanz verändern.“
Religion und Vernunft
Zweites Vermächtnis, für welches das Christentum steht, ist die Verteidigung der natürlichen Vernunft. Die Hauptaussage der Regenburger-Rede Bendikts XVI. von 2006, in der sich der Papst zum einen gegen die Verkürzung des Vernunftbegriffs auf technische Machbarkeit in der europäischen Moderne wandte und anderseits die Muslime dazu bewegen wollte, ihre eigenen theologischen Quellen an der Vernunft zu überprüfen, lautet: „Nicht vernunftgemäss zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider.“ Das Christentum hat, wie Benedikt XVI in einer weiteren berühmten Rede vor dem deutschen Bundestag 2011 darlegte, im Gegensatz zu anderen Religionen dem Staat und der Gesellschaft nie „eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben“, sondern stets „auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen“.
Hier liegt in der Tat ein wesentlicher – und zwar streng theologischer – Unterschied zum Islam vor, dem zufolge Nichtmuslime keine vollwertigen Menschen sind. „Denn islamischer Lehre gemäss ist der Mensch“, so Rhonheimer in der NZZ, „von Natur aus Muslim, die menschliche Natur selbst, die ‚fitra‘, ist muslimisch.“ Nichtmuslime seien folglich Abtrünnige, denaturierte Menschen. Eine theologisch begründete Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen kann es demnach für den Islam nicht geben; eben so wenig wie ein für alle Menschen einsehbares und daher verbindliches Naturrecht. „Der Islam akzeptiert“, so Rhonheimers Konklusion, „die modernen Menschenrechte immer nur unter dem Vorbehalt der Bestimmungen der Scharia.“ Deshalb könne sich gerade der „wahre Islam“ nicht in die Moderne integrieren.
Christentum und Moderne
Diese Moderne, die ihrem Ursprung und ihrem Wesensgehalt nach europäisch und christlich ist, ist ihrerseits ein risikoreiches Projekt, das nicht weniger von innen als von aussen bedroht ist. In Anlehnung an Böckenfördes These kann man sagen, dass Europa als freie und säkulare Gesellschaft nur so lange wird überleben können, wie es den geistigen Nährboden, aus dem Bürgerrechte und Autonomie des Weltlichen (von Kultur, Wissenschaft, Literatur, Philosophie, usw.) gewachsen sind, mit akzeptiert und gerade als Bedingung seiner Freiheit anerkennt. Primäre Bedingung der Anerkennung unveräußerlicher Grund- und Menschenrechte ist die Anerkennung einer menschlichen Natur und die Einsicht, dass Ethos und Recht an dieser Natur Mass zu nehmen haben. Diese Natur ist der einzig mögliche gemeinsame Nenner, auf dem Menschen – unabhängig ihrer Religion – ein gerechtes Zusammenleben aufbauen können; ihre allgemeine Anerkennung der einzig bleibende Schutz vor staatlicher Willkür. Wird das Ethos hingegen, wie dies schon weitgehend der Fall ist, ins subjektive Empfinden verabschiedet, verkommen demokratische Entscheidungsfindung und Rechtsprechung zu reinen Machtkämpfen.
Christliches Abendland
Fraglich ist nur, ob angesichts der faktischen Schwäche menschlicher Vernunft ein – theoretisch – universell gültiges Naturrecht allein als gemeinsame Wertebasis für eine offene und tolerante Gesellschaft ausreicht. Vieles spricht dafür, dass die Naturordnung ihre Überzeugungskraft erst aus dem Glauben gewinnt, mit dem eine Verantwortlichkeit gegenüber dem Schöpfer dieser Naturordnung verbunden ist. Aber eben nicht zwangsläufig aus jedem Glauben. Mit grösster Wahrscheinlichkeit eben nur aus dem christlichen, der die relative Unabhängigkeit der Natur und des Weltlichen aus seinem theologischen Selbstverständnis – z.B. dem Dogma der Inkarnation – heraus bejaht und verteidigt.
Auf der Suche nach geistigen Ressourcen zur Bannung jedes künftigen Totalitarismus fand der deutsche Philosoph Josef Pieper in den Nachkriegsjahren eine Formel, mit der er in Worte zu fassen versuchte, was mit der Rede vom „christlichen Abendland“ eigentlich gemeint sein könnte: Christliches Abendland bedeutet „theologisch gegründete Weltlichkeit“. Diese Formulierung nimmt in allgemeiner Weise die Böckenfördsche Doktrin vorweg. Wir sollten nicht die nächste europäische Katastrophe abwarten, um diesen Ausdruck theologisch erhellter Weltweisheit wieder einmal ganz innig zu bedenken.