Der UNO-Menschenrechtsausschuss ist gegen Verbote islamischer Vollverschleierungen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sieht darin kein Problem. Wie politisch sind die Empfehlungen und Entscheide internationaler Gerichte und Instanzen, die von den Gegnern der Selbstbestimmungsinitiative (SBI) als unfehlbare Garanten der Menschenrechte glorifiziert werden?
Von Dominik Lusser
Sollte die Schweiz die Selbstbestimmungsinitiative (SBI) der SVP annehmen, sei es um die Menschenrechte in der Schweiz geschehen. Diese Botschaft prangt uns gegenwärtig von allen Plakatwänden entgegen. Nur wenn das Völkerrecht den Vorrang vor der Bundesverfassung und internationale Instanzen (und nicht das Bundesgericht) das letzte Wort bei der Auslegung von Menschenrechtsabkommen hätten, könnte der Menschenrechtsschutz in der Schweiz aufrechterhalten werden.
UNO rügt Frankreichs Nikabverbot
Ein aktueller Streitfall zwischen Frankreich und dem UNO-Menschenrechtsausschuss zeigt aber die Naivität solcher Behauptungen exemplarisch auf. Er macht deutlich, wie viel Politik und ideologische Einflussnahme auch bei der Auslegung der Menschenrechte durch internationale Gerichte und Instanzen im Spiel sind.
Frankreich hatte 2010 als erstes europäisches Land ein Nikabverbot eingeführt. Zwei muslimische Frauen, die 2012 wegen des Tragens einer Vollverschleierung in der Öffentlichkeit ein Bussgeld bezahlen mussten, legten eine Beschwerde beim UNO-Menschenrechtsausschuss ein, der sich nun zu ihren Gunsten ausgesprochen hat. Das französische Verbot für Vollverschleierungen im öffentlichen Raum verstosse gegen die Religionsfreiheit der Trägerinnen. Der Ausschuss setzte Frankreich eine Frist von 180 Tagen, um auf die Vorwürfe zu reagieren.
Der Menschenrechtsausschuss, der üblicherweise in Genf tagt, ist das Vertragsorgan, dass die Umsetzung des „Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte“ (UNO-Zivilpakt) in den Vertragsstaaten regelmässig überprüft. Aus Staaten, die wie Frankreich das Zusatzprotokoll zum UNO-Zivilpakt unterzeichnet haben, können sich Bürger auch in einer Individualbeschwerde an den Ausschuss wenden. Dessen Empfehlungen sind rechtlich zwar nicht bindend. Frankreich hat sich aber, im Unterschied zur Schweiz, verpflichtet, sich „in gutem Glauben“ daran zu halten.
Die Rüge Frankreichs sorgt mancherorts für Empörung. „Nicht das Nikabverbot verstösst gegen Menschenrechte, sondern der Nikab an sich“, kritisiert der deutsch-israelische Psychologe Ahmad Mansour auf Facebook.
Uneinigkeit zwischen Genf und Strassburg
Die Aufforderung an die Adresse Frankreichs steht im Gegensatz zur Haltung des EGMR in dieser Frage. Letzterer hielt 2014 in einem Entscheid die Menschrechtskonformität des französischen Nikabverbots fest. Doch wie kommt es, dass selbst die Menschenrechtsexperten der UNO und des EGMR zu so unterschiedlichen Auslegungen von Grundrechten wie der Religionsfreiheit kommen?
Wie das European Center for Law and Justice (ECLJ) zur Nikab-Empfehlung zu bedenken gibt, ist der UNO-Menschenrechtsausschuss „starkem religiösem Druck ausgesetzt“. Der Ausschuss sei zwar durch 18 unabhängige Experten besetzt, die von ihren Herkunftsstaaten im Prinzip keine Weisungen erhielten. „Doch sind diese Experten Erben nationaler und religiöser Traditionen, welche einen starken unsichtbaren Einfluss auf ihre Auffassung der Religionsfreiheit ausüben.“ Fast 30 Prozent der Experten stammen aus Ländern, die 1990 die Kairoer Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet haben. Diese lässt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 nur insofern gelten, als sie dem islamischen Religionsgesetz der Scharia nicht widerspricht. Die Kairoer Erklärung aber hält fest, dass der „Islam die natürliche Religion des Menschen ist“. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Nicht-Muslime als denaturierte Menschen zu betrachten sind.
Der EGMR hingegen zeigt sich viel kritischer gegenüber islamischen Symbolen im öffentlichen Raum, da er – so das ECLJ – in seiner Rechtsfindung mehr „die Geschichte und die Realität der europäischen Zivilisation beachtet“.
Nicht in Stein gemeisselt
Würde sich Frankreich dem UNO-Menschenrechtsausschuss fügen und sein Nikabverbot aufheben, würde es ein im französischen Parlament debattiertes und demokratisch verabschiedetes Gesetz dem Schiedsspruch islamisch geprägter Experten unterwerfen. Wie das ECLJ vermutet, dürfte sich Frankreich aber auf die Rechtsprechung des EGMR berufen, um zu begründen, warum es die Empfehlung des UNO-Ausschusses nicht umsetzen wird. Frankreich dürfte dem Ausschuss „den Säkularismus und die ‚Neutralität‘ entgegenhalten, die vom EGMR tendenziell überhöht werden“. Dieser Tendenz, religiöse Symbole im öffentlichen Raum eher als Beeinträchtigung der Menschenrechte Nichtgläubiger oder Andersgläubiger zu sehen, sind auch schon christliche Symbole – z.B. Kreuze in Klassenzimmern – zum Opfer gefallen. Ein entsprechendes Urteil aus dem Jahr 2009 wurde allerdings nach einem Sturm der Entrüstung in Italien und anderen Ländern 2011 revidiert.
Diese Auseinandersetzung zwischen dem EGMR und der UNO zeigt, dass Gehalt und Auslegung der Menschenrechte nicht in Stein gemeisselt sind, sondern regelmässig zum Schauplatz ideologischer Kämpfe werden. Und zwar nicht nur zwischen europäischen und globalen Instanzen, sondern auch zwischen dem EGMR und den Gerichten der Mitgliedsländer des Europarats. Selbst die verschiedenen Kammern des EGMR kommen – je nach Besetzung – bisweilen zu ganz unterschiedlichen Urteilen, sodass von Strassburg selbst sehr widersprüchliche Signale bezüglich der Auslegung der Menschenrechte ausgesendet werden.
Die Vorstellung, wonach der EGMR eine Instanz wäre, welche die Menschenrechte unfehlbar auslegt und per se besser garantiert als nationale Gerichte europäischer Länder, gehört darum ins Reich der Märchen und Mythen. Kürzlich liessen die Strassburger Richter 146 französische Bürgermeister im Stich, welche sich mit Berufung auf ihre Gewissensfreiheit dagegen wehren wollten, vom französischen Staat zur „Trauung“ homosexueller Paare gezwungen werden zu können.
Dynamisiertes Recht
Die Entscheide des EGMR sind, wie die jedes anderen Gerichtshofes auch, immer auch politischer Natur und an Werthaltungen gebunden. Dies umso mehr, seit die Menschenrechte nicht mehr auf dem sicheren Boden des Naturrechts interpretiert werden, auf dem sie gewachsen sind. Im Zuge der dynamischen Rechtsentwicklung und der – oft genug nur vorgeschobenen – Anpassung des Rechts an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse finden heute vermehrt sozialkonstruktivistische Ideologien (z.B. die Gender-Ideologie) und post- bzw. transhumane Menschenbilder Eingang in die Interpretation der Menschenrechte. Diese werden, ähnlich wie die Scharia konforme Auslegung der Menschenrechte im Islam, ideologischen Prämissen unterstellt und teilweise massiv umgedeutet.
Wie sich z.B. die bisher eher konservative Strassburger Rechtsprechung in Bezug auf nationale Verbote der Leihmutterschaft weiterentwickeln wird, steht in den Sternen geschrieben, zumal der EGMR für sich in Anspruch nimmt, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) enthaltenen Werte entsprechend dem „gesellschaftlichen Wandel in Europa“ auszulegen. Wie stark das internationale Recht in dieser Frage auf eine Liberalisierung drängt, zeigen die Empfehlungen des UNO-Kinderrechtsausschusses von 2015 an die Schweiz. Mit der Begründung, dass das Interesse des Kindes ins Zentrum zu stellen sei, wird die Schweiz aufgefordert, im Ausland durch Leihmutterschaftsverträge entstandene Kindsverhältnisse durch beschleunigte Adoptionsverfahren anzuerkennen und somit die Umgehung des einheimischen Leihmutterschaftsverbots zu begünstigen. Dass Frauen durch das Leihmutterschaftsgeschäft zu Gebärmaschinen und Kinder zu Handelsobjekten werden, scheint die globalen Hüter der Kinderrechte hingegen kaum zu interessieren. Auch die Haager Konferenz für Internationales Privatrecht (HCCH) arbeitet derzeit an einem internationalen Rechtsrahmen für Leihmutterschaft, der – wie Feministinnen befürchten – sich auf die Regelung eines „reibungslosen Ablaufs von Leihmutterschaft“ beschränken und deren Praxis und Markt somit stärken könnte.
Verklärung des Völkerrechts?
Die in diesem Sinne zunehmend „denaturierten“ Menschenrechte sind eine grosse Gefahr für die Glaubwürdigkeit universell gültiger Menschenrechte. Doch dürfen wir diese Realität nicht ausblenden, wenn wir uns darüber Gedanken machen, welche politischen Strukturen und Institutionen die zu jeder Zeit, heute aber wieder ganz besonders gefährdeten Menschenrechte am ehesten schützen können. Die SVP macht dazu mit der SBI einen sehr bedenkenswerten Vorschlag und kontert damit das Totschlagargument ihrer Gegner, welche die SBI als Anti-Menschenrechtsinitiative verunglimpfen.
Der Inhalt der EMRK, deren Grundrechte auch in der Bundesverfassung stehen, wird durch die SBI keineswegs infrage gestellt. „Lediglich die Entscheidungen des EGMR und seine eigenwillige Praxis sorgen in einem direktdemokratischen Land wie der Schweiz für Kopfschütteln“, schreibt das Initiativkomitee. Der EGMR lege die Rechte der EMRK immer weiter aus und dringe in immer neue Politikfelder ein, ohne dass die Schweiz als beteiligter Staat oder die Schweizer Bevölkerung sich dazu äussern könnten. Es dürfe nicht sein, so die Initianten, dass „fremde Richter“ internationale Abkommen über ihren vereinbarten Gehalt hinaus ausweiteten und neu interpretierten, ohne dass wir direktdemokratisch mitbestimmen könnten. „Würde sich der EGMR beispielsweise anmassen zu entscheiden, dass das Schweizer Minarettverbot gegen die EMRK verstösst, wäre gemäss der SBI der Entscheid des Schweizer Stimmvolks höher zu gewichten.“ Damit hätte die Religionsfreiheit in der Schweiz nach wie vor Gültigkeit, halten die Initianten fest. Sie bliebe fest verankert in der Bundesverfassung. Lediglich der Bau von Minaretten bliebe verboten, der nach Auffassung des Schweizer Souveräns eben nicht zum unantastbaren Gehalt der Religionsfreiheit gehört.
Den Menschenrechtsbegriff schützen
Unterstützung erhält die SBI vom Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli. Dieser warnte kürzlich in der „Weltwoche“ vor einer Verklärung des Völkerrechts: „Das Völkerrecht wird von Beamten und Regierungen gemacht, die ihre eigenen Interessen im Auge haben. Es sind Funktionäre in irgendeiner Arbeitsgruppe, die miteinander internationale Weisungen ausarbeiten – das ist völlig undemokratisch. Die Öffentlichkeit weiss nicht, wer in dieser Gruppe vertreten ist. Niemand trägt Verantwortung, niemand zeigt sein Gesicht.“ Umgekehrt ruft er in Erinnerung, dass die Schweizer Bundesverfassung die Grundrechte selbst dann garantieren würde, wenn wir – was die SBI aber gar nicht fordere – nicht mehr bei der EMRK dabei wären. „Die Verfassung, das wird gerne vergessen, bietet weit mehr Schutz als die EMRK.“ Niggli hält denn auch nichts davon, die Rechtsprechung des Strassburger Gerichtshofs zu idealisieren und als unverzichtbar für die Menschenrechtsentwicklung in der Schweiz darzustellen. „Der Gerichtshof besteht aus Leuten, die auf wenig durchsichtige Art ins Amt kommen. Das ist auch bei der Schweizer Richterstelle in Strassburg nicht anders“.
Die Gefahr, dass die Justiz selbst Politik betreibt, ist immer gegeben. Ein Gericht wie der EGMR, dem im Unterschied zum Schweizer Bundesgericht aber kein Gesetzgeber als Konterbalance gegenübersteht, ist diesbezüglich einem besonderen Risiko ausgesetzt. Niggli gibt zu bedenken: „Natürlich können Millionen von Leuten einen Fehler machen, doch das gilt ebenso für ein Gremium von ein paar Richtern oder Beamten. Und wenn das Volk einen Unsinn beschliesst, dann zahlt es auch selber den Preis.“
„Die Spaltung und Fragilität internationaler Gremien zeigt, dass das Schutzsystem der Menschenrechte kein Allheilmittel ist“, warnt auch das ECLJ. Angesichts islamischer und posthuman-libertärer Umdeutungen der Menschenrechte muss es darum gehen, die wahren, in der Natur des Menschen begründeten Rechte wiederzuentdecken, die sich am Gemeinwohl und an der Gerechtigkeit orientieren. Das aber bedeutet: Die Frage des Menschenrechtschutzes ist nicht allein eine Frage des richtigen Systems, sondern eine Frage der Gerechtigkeit.
Die Menschenrechte hängen, wie ich meine, vom festen Willen aller an den politischen Prozessen beteiligten Personen ab, jedem Menschen nicht mehr und nicht weniger als Menschenrecht zuzugestehen als das, was er zum Führen einer menschenwürdigen Existenz unbedingt braucht. Werden hingegen gewisse Menschen (z.B. ungeborene Kinder) von den Menschenrechten ausgeschlossen oder werden im Gegenteil Menschenrechte – vielleicht auch nur für bestimmte Gruppen oder Minderheiten – inflationär ausgeweitet, verliert der kostbare Begriff der Menschenrechte seine klare Kontur und grundlegende Schutzfunktion.
Schutzfaktor direkte Demokratie?
Dennoch glaube ich, dass die Frage nach elementarer Gerechtigkeit, um die es hier geht, – theoretisch – in keinem anderen politischen Rahmen besser beantwortet werden kann als in einer breiten öffentlichen Diskussion, in welcher alle gesellschaftlich relevanten Akteure auf faire Weise sachliche Argumente austauschen. Dazu aber böte die direktdemokratisch verfasste Schweiz all ihren Bürgern eigentlich regelmässig Gelegenheit. Wie schlecht es allerdings um die politische Gesprächskultur auch in der Schweiz mittlerweile bestellt ist, zeigt gegenwärtig besonders die aggressive, Emotionen schürende Kampagne der SBI-Gegner, die mehr auf den Anti-SVP-Reflex anstatt auf Sachlichkeit zu vertrauen scheinen.
Unsere direkte und föderal strukturierte Demokratie ist eine Form der Konfliktlösung und der Machtkontrolle, und zwar möglicherweise die beste, die Menschen im politischen Bereich je erdacht haben. Sie kann, wenn guter Wille dazu vorhanden ist, auch zum Schutz der Menschenrechtskultur in der Schweiz viel beitragen. Ein Nein zur SBI hingegen wäre laut Niggli als Signal zu interpretieren, „dass das internationale Recht künftig immer vorgeht, immer.“ Und dies könnte für die Menschenrechte in der Schweiz durchaus negative Konsequenzen haben, ohne dass wir auf demokratischem Weg etwas daran ändern könnten.