In Deutschland hat das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg der Gewissensfreiheit einen schweren Schlag versetzt: Apotheker, die den Verkauf der „Pille danach“ nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, müssen den Beruf aufgeben.

Von Ralph Studer  

Andreas Kersten war Apotheker aus Leidenschaft. Er stellte seine Kraft in den Dienst der Menschen und deren Gesundheit. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg sprach ihn im Juni 2024 in einem „hoch ambivalenten Urteil“ (Menschenrechtsorganisation ADF International) zwar vom Vorwurf der Berufspflichtverletzung frei und auferlegte die Kosten des Verfahrens der Apothekenkammer. Gleichzeitig stellte es jedoch die Gewissensfreiheit von Apothekern in Berlin in Frage.

Wie alles begann

Bis zu seiner Pensionierung weigerte sich Kersten, die „Pille danach“ in seiner Apotheke zu verkaufen. Dies brachte ihm eine Anzeige bei der Apothekenkammer Berlin ein. Die „Pille danach“ wird meist zur Verzögerung des Eisprungs und dadurch zur Verhinderung der Verschmelzung von Eizelle und Spermium eingesetzt. Sie wirkt jedoch auch nidationshemmend. Das heisst, sie verhindert die Einnistung des gezeugten Kindes in der Gebärmutter und führt so zu einer frühen Abtreibung.

So kam sein Fall vor das Verwaltungsgericht Berlin. Dieses entschied im Jahr 2020 als erste gerichtliche Instanz zu Gunsten des Apothekers: In solchen Situationen habe der Apotheker das Recht, aus Gewissensgründen den Verkauf von gewissen Produkten, hier der „Pille danach“, zu verweigern. Darin liege kein Verstoss gegen die Berufspflicht. Er könne sich auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit und der Meinungsfreiheit berufen.

Aufgeben der Selbstständigkeit „zumutbar“

Mit diesem Entscheid war die Apothekenkammer allerdings nicht einverstanden und legte beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Beschwerde ein. Aus dem nun vorliegenden Urteil wird deutlich, was künftig auf Apotheker zukommt, die sich auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit berufen: Ein selbstständiger Apotheker hat mit seiner Apotheke dem gesetzlichen Versorgungsauftrag mit Arzneimitteln zu genügen. „Die ‚Pille danach‘ sei ein apothekenpflichtiges Arzneimittel, dessen Abgabe er nicht aus Gewissensgründen verweigern dürfe. Die grundgesetzlich geschützte Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 Grundgesetz) setze einen ernsthaften Gewissenskonflikt voraus, dem man sich nicht auf zumutbare Weise entziehen könne. Wer sich zur Führung einer öffentlichen Apotheke entschliesse, müsse die umfassende Versorgung gewährleisten; wer das nicht auf sich nehmen könne, dem sei die Aufgabe der Selbstständigkeit zuzumuten. Es gebe andere berufliche Möglichkeiten für Pharmazeuten, in denen dieser Gewissenskonflikt nicht bestehe.“

Im Widerspruch zu internationalem Recht

Diesem Urteil kommt insofern eine besondere Bedeutung zu, als es in Deutschland einen wichtigen Präzedenzfall darstellt. Es führt dazu, „dass sich Apotheker künftig zwischen ihren Überzeugungen und ihrem Beruf entscheiden müssen“, so Dr. Felix Böllmann, Leiter der europäischen Rechtsabteilung von ADF International. „Niemand darf zu einer Handlung gezwungen werden, die seinem Gewissen deutlich widerspricht – vor allem nicht, wenn es um Leben oder Tod geht. (…) Berufsverbote aus Gewissensgründen sind eines den Grundrechten verpflichteten Rechtsstaates unwürdig.“, so Böllmann weiter.

Dass das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg damit internationalem Recht widerspricht, thematisiert das Gericht nicht weiter. Werden Grundrechte allerdings nicht mehr effektiv garantiert, verkommen sie zur Farce und der Rechtsstaat zur leeren Hülle. Genau dies passiert hier: Die Argumentation des Oberverwaltungsgerichts lässt der Gewissensfreiheit in solchen Fällen keinen Raum mehr.

Kein Einzelfall

Die Gewissensfreiheit im gesamten medizinischen Bereich gerät zunehmend unter Druck. Davon weiss auch Prof. Dr. Paul Cullen zu berichten, Vorsitzender der Ärzte für das Leben in Deutschland. „Ärzte, die versuchen, nach ihrem Gewissen zu handeln, sehen sich zunehmend Repressionen und Schwierigkeiten ausgesetzt.“, klagte er beim diesjährigen „Marsch fürs Läbe“ am 14. September in Zürich-Oerlikon. Mediziner gerieten massiv unter Druck oder verlören sogar ihren Job, wenn sie sich für den Lebensschutz positionierten. Cullen selbst musste sich von Studentenvertretungen seiner Universität mehrfach wüst beschimpfen lassen, weil er für das Lebensrecht ungeborener Kinder eintritt.

Probleme bekämen Ärzte heute auch, wenn sie „den ärztlich assistierten Suizid oder das Töten auf Verlangen aus ethischen Gründen ablehnen wollen“. Ein Arzt ohne Gewissensfreiheit verkomme jedoch zu einem „Medizintechniker (…), der vorgeschriebene Handlungen am Patienten vornimmt, egal, ob er sie vertretbar und mit seinem Gewissen vereinbar findet oder nicht.“

Aufruf von ADF International

Infolge des eingangs erwähnten Urteils ruft Felix Böllmann Apotheker und Mediziner dazu auf, sich bei ADF International zu melden, wenn sie zu Handlungen gegen ihr Gewissen gezwungen werden bzw. deswegen vor der Aufgabe ihres Berufs stehen. „Gemeinsam können wir die Gewissensfreiheit verteidigen“, zeigt sich Böllmann überzeugt.

Einen Ausschnitt aus der Rede von Professor Cullen finden Sie in unserem aktuellen Magazin 5/2024, das Sie bei Zukunft CH  bestellen können.