„Wollen Sie lieber einen lebenden Sohn oder eine tote Tochter?“ Verzweifelten Eltern wird häufig nahegelegt, eine Transition ihres Kindes zuzustimmen mit der Begründung, dass sonst ein hohes Suizidrisiko bestünde. Ein US-Review von 23 Studien zeigt nun auf, dass es keine Belege dafür gibt, wonach Suizidalität durch Gender-affirmative Therapien tatsächlich reduziert wird.
Immer mehr nationale Gesundheitsdienste raten zu großer Vorsicht mit „Gender-affirming Care“ oder „affirmativen Therapien von Minderjährigen mit Transitionswünschen“, berichtet das Deutsche Ärzteblatt. Einzelne Forscher, die bei der Einführung des Vorgehens zunächst mitgewirkt haben, äussern sich inzwischen kritisch angesichts von Suizidgefahr, aber auch von lebenslang belastenden Auswirkungen von Pubertätsblockern und Hormonen.
Das niederländische Modell: einst gehypt, heute kritisiert
Es gehe darum, eine „pharmakologische Behandlung in der Pubertät mit Cross-Sex-Hormonen, die die Ausbildung von gegengeschlechtlichen körperlichen Geschlechtsmerkmalen fördert“, – wenn überhaupt – zurückhaltender als bisher einzusetzen und am besten nur in wissenschaftlichen Studien. Zuvor sollten psychiatrische Erkrankungen abgeklärt werden, schreibt das Amtsblatt der deutschen Ärzteschaft.
Auch das vielzitierte niederländische Modell kann offenbar nicht als Vorbild gelten. Das Niederländische Transgender-Protokoll galt lange Zeit als Standardbehandlung. Nun steht es unter internationaler Kritik. Junge Menschen würden sich hier unnötigerweise einer Behandlung mit schwerwiegenden, irreversiblen Folgen unterziehen. Die Studienmethoden seien völlig unzureichend gewesen, sagt etwa der Statistiker Gerard van Breukelen von der Universität Maastricht.
23 relevante Studien zum Suizidrisiko weisen methodische Mängel auf
Ob eine oder verschiedene Massnahmen zur Geschlechtsumwandlung die Häufigkeit von Suiziden bei Transgender-Personen reduzieren können, bleibt ebenfalls kontrovers – mit zum Teil diametral unterschiedlichen Ergebnissen, wie jetzt eine Meta-Analyse mehrerer Studien aus den USA ergeben hat.
Daniel Jackson von der Upstate Medical University in Syracuse (USA) hat in einem Review von insgesamt 23 Studien aus den Jahren 2008 bis 2022 mit Patientenzahlen zwischen 15 und 3754 versucht, die Frage zu klären, welcher Nutzen von einer Transgender-Therapie im Hinblick auf die Häufigkeit von Suiziden zu erwarten ist.
In den ausgewählten Studien werden Erkenntnisse über den Zusammenhang von Selbsttötungen und transgender-affirmativer Behandlung untersucht – mit dem Resultat, dass vor allem methodische und Erhebungsmängel dazu beitragen, dass derzeit kein generell gültiges Ergebnis festgehalten werden kann.
Nicht erfasst: Waren Patienten davor bereits in psychiatrischer Behandlung?
Weder kann die Reduktion der Zahl von Suiziden nach einer Behandlung, noch kann das Risiko zu vermehrten Suiziden zweifelsfrei festgestellt werden. Die Zahl der Faktoren, die das Resultat der einzelnen Studien beeinflusst haben, war gross. Seine Kritik: Fast durchgängig wurde in vielen Studien nicht erhoben, ob die Patienten vor der Behandlung bereits eine psychiatrische Vorerkrankung hatten. Ebenso fehlen die Daten, ob Patienten davor bereits in psychiatrischer Behandlung waren.
Auch andere relevante Faktoren in der Vorgeschichte werden nur selten ermittelt
Auch gibt es in den Studien keine systematische Erhebung über Drogenkonsum oder andere Faktoren in dieser Patientengruppe, die das Suizidrisiko erhöhen oder verringern könnten: zum Beispiel, ob die Patienten vor der Therapie Opfer von häuslicher Gewalt oder Unfällen waren, gesellschaftlich oder familiär diskriminiert wurden. Anamnestisch sind diese Fakten stets von Bedeutung.
Viele der herangezogenen Kriterien in den Studien sind uneinheitlich
Obwohl 21 von 23 Studien von einer Reduktion der Suizidalität durch Gender-affirmative Therapien ausgehen, fehlt überall die statistische Signifikanz für diese Annahme. Zwei grosse Studien ergaben eine Erhöhung der Suizidalität nach Therapie. Aber auch diese Studien hatten keine Vorher-Nachher-Vergleiche im Hinblick auf Suizidgedanken oder -versuche oder aber eine brauchbare Vergleichsgruppe aus der Allgemeinbevölkerung.
Suizid und Suizidversuche haben verschiedene Ursachen
Diametral unterschiedliche Beobachtungen ergaben sich im Studienvergleich bei weiteren Kriterien: Die US-Leitlinien für den Umgang mit Personen mit suizidalem Verhalten nennen zusätzlich zu Trauma und Missbrauch als Risiken für einen Suizid: plötzliche Arbeitslosigkeit, Verlust von Bezugspersonen, soziale Isolation und dysfunktionale personale Beziehungen.
So bezieht sich Jackson auf eine in JAMA Network Open publizierte Studie, die ergab, dass ein Konflikt mit der Familie über die Genderidentität keinen Einfluss auf die Häufigkeit von Suizidgedanken hatte.
Eine 2016 erschienene Studie hatte im Widerspruch dazu herausgefunden, dass Suizidgedanken vermehrt in Familien vorkamen, in denen es wenig Bejahung des Transgenderwunsches eines Familienmitglieds gab, erläutert Jackson.
Wie soll Suizidalität gemessen werden? Gedanken – Versuche – Suizide?
Bei den meisten Studien erfolgte zudem die Messung des Merkmals „Suizidalität“ mittels verschiedener Kriterien. Dazu gehörten suizidale Gedanken, Suizidversuche und erfolgte Suizide. Wurden alle drei Kriterien nebeneinandergestellt, erreichte kein einzelnes Kriterium statistische Signifikanz, was dann in der Summe das Thema Suizidalität als irrelevant erscheinen lässt. Jackson schlägt deshalb vor, in zukünftigen Studien einheitlich das Kriterium der Häufigkeit von suizidalen Gedanken zu nutzen. Dieses Merkmal könne auch eine ausreichende statistische Power erreichen, um Unterschiede zwischen Vergleichsgruppen aufzeigen zu können.
Renommierte Jugendpsychiaterin wechselt von Befürwortung zu Kritik
Dass der Anstieg der Häufigkeit von Wünschen nach Geschlechtsumwandlung vor allem bei weiblichen Jugendlichen auch mit einem Anstieg von psychiatrischen Diagnosen verbunden ist, hat kürzlich eine finnische Register-Studie des Teams um die Jugendpsychiaterin Riittakerttu Kaltiala, die die Abteilung für Jugendpsychiatrie am Universitätskrankenhaus Tampere in Finnland leitet, ergeben.
Beim Erstkontakt mit der entsprechenden Einrichtung in Finnland betrug die Häufigkeit in den Jahren 1996-2000 ein 3,5-faches im Vergleich zur Normalbevölkerung. In den Jahren 2016 bis 2019 war dieser Wert auf das 4,6-fache angestiegen. Die renommierte Psychiaterin Kaltiala hatte sich aufgrund ihrer eigenen Untersuchungen von einer Befürworterin von „Gender-affirming Care“ in Finnland zu einer wichtigen Kritikerin bei Kindern und Jugendlichen gewandelt.