Karfreitag, etwa im Jahre 33. n.Chr. in einem Dorf bei Jerusalem. Kopfschüttelnd hören Sie die Erzählung eines Augenzeugen darüber, wie die Menschenmassen in Jerusalem lautstark die Kreuzigung eines Mannes aus Nazareth gefordert haben. Aber hatten diese Massen nicht erst wenige Tage vorher genau diesem Jesus zugejubelt, als er nach Jerusalem einzog? Ein paar Gedanken zum Palmsonntag.
Von Ursula Baumgartner
Matthäus, Markus, Lukas und Johannes: Alle vier Evangelisten berichten vom triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem. Alle vier erwähnen, wie Jesus auf einem Esel in die Stadt reitet. Alle vier erzählen, wie die Volksmenge zusammenläuft, um Jesus willkommen zu heissen. Die Menschen haben so viel von ihm gehört, dass alle ihn sehen wollen. Viele wurden sogar von ihm von einem Leiden geheilt oder kennen einen Geheilten. Die Begeisterung kennt keine Grenzen. So rufen die Massen: „Hosianna dem Sohne Davids! Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Sie feiern ihn, legen ihm ihre Oberkleider zu Füssen und schwingen Palmzweige, um ihm ihre Ehrerbietung zu zeigen.
Die Stimmung kippt
Ein paar Tage später: Jesus wird am Abend des Gründonnerstags von Soldaten und Knechten der Hohenpriester gefangen genommen und steht nun vor Gericht. „Gotteslästerung“ lautet die Anklage. Darauf steht die Todesstrafe – und nicht irgendeine. Von Kreuzigung ist die Rede, was die grausamste und schändlichste Hinrichtungsart von allen ist.
Nun gut, mag man denken, Jesus hat ja so viele Unterstützer, die werden schon für ihn kämpfen. Doch falsch gedacht. Als Pontius Pilatus, der römische Statthalter, der die Gerichtsverhandlung führt, die Menge fragt, was er mit Jesus tun soll, schreien alle: „Kreuzige ihn!“
Was ist geschehen in dieser kurzen Zeit? Wie konnte es passieren, dass die Stimmung der Masse innerhalb weniger Tage so völlig ins Gegenteil umschlägt? Die Evangelisten berichten davon, die Hohenpriester hätten das Volk aufgewiegelt. Ihnen war Jesus ein Dorn im Auge, da er sie so scharf kritisierte. So machten sie sich die Volksmasse zunutze, um ihren Plan, Jesus zu töten, umzusetzen.
Mitläufer damals und heute
Doch sind in dieser Menge auch all die Menschen, denen Jesus geholfen hat, die er geheilt hat? Sind auch sie, die ihm dankbar sein sollten, so wetterwendisch, jetzt seinen Tod zu fordern? Oder sind die „Schreihälse“ diejenigen, die auch am Palmsonntag nur aus Neugier die Strassen von Jerusalem gesäumt haben? Sie sind leicht lenkbar, da sie ohnehin keinen persönlichen Bezug zu Jesus haben. Wer nur sensationslüstern ist, hat auch keine Skrupel, unschuldiges Blut zu fordern.
Mit etwa 2000 Jahren Abstand ist es natürlich leicht, über das Verhalten anderer zu urteilen. Doch ein ehrlicher Blick auf uns selbst lässt uns erkennen: Oft lassen auch wir uns aufwiegeln oder von einer Menge mitreissen. Jeder von uns ist gelegentlich ein „Mitläufer“, der eine vorgefertigte Meinung unhinterfragt übernimmt. So müssen wir uns an diesem Palmsonntag fragen: In welchem Lebensbereich rennen wir mit der Masse mit? Wen oder was sind wir gewillt, um der Bequemlichkeit Willen im übertragenen Sinne zu kreuzigen? Wen oder was liefern wir „ans Messer“, obwohl wir es vielleicht besser wissen oder besser wissen könnten?
Argumente damals und heute
Ein genauerer Blick auf einzelne Personen und Situationen zeigt, dass sich die Menschheit in 2000 Jahren nicht wesentlich geändert hat. Als die Masse schreit „Kreuzige ihn!“, fragt Pilatus nach: „Was hat er denn getan?“ Die Antwort ist simpel. Denn die Masse schreit dasselbe noch einmal, nur noch lauter: „Kreuzige ihn!“
Wie bekannt kommt uns diese Art der „Argumentation“ heute noch vor. Wie oft wird eine Behauptung einfach wiederholt, ohne sie zu belegen oder zu erläutern. Wie viele Menschen bekommen heute „Stempel“ aufgedrückt, die sie nie wieder loswerden. Wie oft, wie schnell wird jemand gebrandmarkt als „Klimaleugner“, als „transphob“, „rückwärtsgewandt“, „fremdenfeindlich“, „fundamentalistisch“, „frauenfeindlich“, „weltfremd“, oder „wissenschaftsfeindlich“. Solche Schlagworte kreuzigen im übertragenen Sinne Personen, Ideen und den freien Meinungsaustausch. Die Menschen haben in Sachen Argumentation offenbar in 2000 Jahren nichts dazugelernt.
Das Urteil des Pilatus …
Pilatus selbst ist einen näheren Blick wert. Denn die unwürdige Art der „Argumentation“ des Volkes hätte nichts gefruchtet, wäre Pilatus nicht eingeknickt. Er ist sich eigentlich unsicher, was er tun soll. Er findet an Jesus keine Schuld, hat aber Angst, es sich mit den Behörden zu verscherzen, wenn er ihn nicht verurteilt. Die jüdischen Machthaber warnen ihn: „Wenn du ihn (= Jesus) freilässt, bist du kein Freund des Kaisers.“ Also spricht Pilatus das Todesurteil. Auch hier darf sich jeder fragen, wie viele ungerechte Entscheidungen er selbst oft trifft um eines persönlichen Vorteils willen.
Interessanterweise lässt Pilatus über Jesus‘ Kopf am Kreuz eine Tafel anbringen, auf der zu lesen ist: „Jesus von Nazareth, König der Juden“. Ob dies ein persönliches Bekenntnis zu Jesus ist oder eine indirekte Botschaft an den Kaiser, dass er hiermit einen Konkurrenten aus dem Weg geräumt hat, ist eine Überlegung wert.
… und die Angst des Petrus
Eine zweite zentrale Figur in den Passionsgeschichten ist der Apostel Petrus. Er brüstet sich am Gründonnerstag noch, wenn notwendig mit Jesus bis in den Tod gehen zu wollen. Wenig später leugnet er mehrfach, ihn auch nur zu kennen. Nach Jesu Gefangennahme folgt er von weitem und wartet im Hof des Hohenpriesters auf den Ausgang des Verfahrens. Mehrere Menschen fragen ihn dort, ob er nicht auch zu den Jüngern Jesu gehöre. Er bestreitet es jedes Mal. Zu gross ist seine Angst, auch festgenommen und eventuell getötet zu werden.
Die Angst ist nicht unberechtigt. Über dem Kopf Jesu brauen sich bildlich gesprochen in diesen Stunden dunkle Gewitterwolken zusammen. Sie könnten auch über seinen Jüngern ein Unwetter losbrechen lassen. Jeder, der Jesus näher kennt, ist nun in Lebensgefahr. Petrus geht daher „auf Nummer sicher“. Doch dies führt, wie die Angst es oft tut, in die Verleugnung und die Unwahrheit.
Aus den Evangelien geht allerdings nicht hervor, warum genau die anderen an seiner Verbindung zu Jesus interessiert sind. Im Markus-Evangelium fragt eine Magd des Hohenpriesters mehrfach hartnäckig, ob Petrus ihn denn nicht doch kennt. Er leugnet dreimal. Doch vielleicht war seine Angst hier ja unbegründet. Vielleicht wollte die Magd einfach nur Informationen aus erster Hand. Vielleicht wollte sie gern noch mehr über ihn hören. Vielleicht kannte sie jemanden, den Jesus geheilt hat – oder war sogar selbst von ihm geheilt worden. Vielleicht verstand sie deswegen selbst nicht, wie es vom „Hosianna!“ zum „Kreuzige ihn!“ kommen konnte. Vielleicht hätte sie selbst gern den Glauben an ihn bezeugt, wenn sie jemand dazu ermutigt hätte. Vielleicht hätte Petrus also gar nichts zu fürchten brauchen, wenn er sich vor ihr zu Jesus bekannt hätte.
Der Karfreitag ist nicht das Ende
Wir wissen: Das „Kreuzige ihn!“ vom Karfreitag geht über in das „Halleluja!“ des Ostermorgens. Die Verurteilung durch einen Mob und einen feigen Herrscher sowie die Verleugnung durch den besten Freund haben nicht das letzte Wort. Doch das ist Gottes Eingreifen geschuldet und ist kein Verdienst der Beteiligten.
So können uns die Passionsberichte der Evangelien auch heute noch viel lehren. Unsere Loyalität gegenüber Personen, Ideen oder Institutionen soll nicht von Strömungen und Stimmungen der Masse abhängen. Unsere Urteile sollen der Wahrheit verpflichtet sein und nichts anderem. Und unser Bekenntnis zu unseren Überzeugungen soll furchtlos und nicht berechnend sein. Nur so lässt sich verhindern, dass wir ein unbedachtes „Hosianna!“ gegen ein ebenso gedankenloses „Kreuzige ihn!“ eintauschen.