„Es ist absolut inakzeptabel, dass trächtige Kühe geschlachtet werden. Deswegen wollen und müssen wir etwas dagegen tun“, meinte kürzlich der deutsche Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU). Das Ministerium führt in einer Pressemitteilung aus: „Die ungeborenen Kälber ersticken nach dem Tod der Kuh in einem Prozess, der bis zu 20 Minuten dauern kann. Das sei aus ethischen Gründen nicht vertretbar.“ Schmidt möchte diese Praxis so bald wie möglich beenden. Denn offensichtlich gäbe es viele einflussreiche Menschen, die „ein Herz für ungeborene Kälber“ hätten. Hubert Gindert, der Vorsitzende des „Forums Deutscher Katholiken“, begrüsst laut Meldung von kath.net zwar die Initiative des Ministers für die ungeborenen Kälber, kritisiert aber gleichzeitig, dass es über den Schutz ungeborener Kinder keine derartige Diskussion gibt. Das sei Heuchelei.
Man kann Gindert nur beipflichten. Der Fall zeigt eindrücklich, wie sehr sich unsere Gesellschaft bereits vom gesunden Menschenverstand verabschiedet hat. Ethik ist zur reinen Gefühlssache geworden. Der Verstand bleibt aussen vor. Anders lässt sich der Widerspruch im Umgang mit ungeborener Kälbern und Kindern nicht erklären: Der grausame Umgang mit Kälbern provoziert einen Skandal und geht uns zu Herzen, der grausame Umgang mit ungeborenen Kindern berührt hingegen nur noch die Wenigsten.
Durch die an vielen Beispielen beobachtbare Verabschiedung der Ethik vom Verstand häufen sich die Widersprüche in unseren Gesetzgebungen. Diese tragen je länger je weniger die Handschrift der Gerechtigkeit, sondern die der Willkür und einer medial manipulierbaren Gefühligkeit. In der Schweiz will der Bundesrat derzeit durch ein Verbot für Ärzte, das Geschlecht des Kindes vor der zwölften Schwangerschaftswoche mitzuteilen, der Abtreibung aufgrund des Geschlechts einen Riegel vorschieben. Viele Feministinnen jubeln! Ein derartiger Schutz für Kinder mit Down-Syndrom ist hingegen Tabu. Eine solche Forderung würde sogleich als mangelnde Sensibilität gegenüber den betroffenen Eltern oder als Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht gebrandmarkt. Doch wo bleibt da die gesetzgeberische Kohärenz? Wo bleibt der Verstand, der doch klar sagt, dass jedes Individuum der Art Mensch – ob krank oder gesund, Mann oder Frau – das gleiche Recht auf Leben hat?
Die westlichen Länder haben nicht nur die Religion zur Privatsache erklärt, sondern auch die ethische Vernunft. Akzeptiert ist nur noch die technische Vernunft, welche die Möglichkeiten des Machbaren ständig erweitert. Ein ethisches Urteil über die ständig sich vermehrenden Optionen wird hingegen ins Private und Subjektive verbannt, und zwar auch dann, wenn es um Leben und Tod geht. So erklärte mir kürzlich eine bekannte Schweizer Ethikerin, die Entscheidung über eine Abtreibung müsse darum der Frau überlassen werden, weil niemand deren Innenperspektive einnehmen könne. Ist das im Grunde nicht eine Kapitulationserklärung unserer Gesellschaft vor dem „Gewissen“ des Mörders.
Wie müssen wir in Anbetracht dieses ethischen und rechtlichen Relativismus die kürzlich erfolgte Verurteilung des geständigen Buchhalters von Ausschwitz bewerten? Als glückliche Inkonsequenz? Oder als zufällig gerechtes Willkürurteil? Meiner Meinung nach ist es viel eher ein Indiz dafür, dass das menschliche Gewissen, das treffsicher und objektiv zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden vermag, doch nicht so einfach zum Verstummen gebracht werden kann. Dafür zeugen auch die zahlreichen Mütter, Väter, Ärzte und Krankenschwestern, die nach einer Abtreibung mit Gewissensbissen durch Leben gehen. Sicher wäre auch in ihrem Fall die Anerkennung ihrer Schuld – die nicht ein blosses Gefühl ist und darum auch von keinem Psychiater der Welt einfach wegtherapieren werden kann – ein wichtiger Schritt, mit sich selbst, dem getöteten Kind, der Welt und deren Schöpfer wieder ins Reine zu kommen.
Dominik Lusser