Der Grünen-Präsident Balthasar Glättli will eine Art „Wahrheitskommission“ in politischen Debatten einführen. Wer in diesem Gremium sitzen würde, sagt Glättli nicht. In jedem Fall wäre dies ein schwerer Schlag gegen Demokratie und Meinungsfreiheit.
Kommentar des Monats von Ralph Studer
Im Wahljahr 2023 gehen die Wogen hoch und die Parteien fürchten sich vor dem Verlust von Sitzen und Einfluss. Laut aktuellen Umfragen könnten die Grünen schwere Verluste einfahren. Drohen die eigenen Felle davon zu schwimmen, sind für die Verantwortlichen auch gefährliche oder sogar absurde Vorschläge eine zulässige Option.
Nicht zum ersten Mal
So fordert Glättli in einer parlamentarischen Initiative die Schaffung eines Gremiums, das „während Abstimmungskampagnen zur Beurteilung zweifelhafter Aussagen in der öffentlichen Werbung angerufen werden kann“ und Stellung nimmt „zur Plausibilität und zum Wahrheitsgehalt von Argumenten und Thesen“. Offen bleibt in Glättlis Forderung, wer darüber entscheiden darf, was „richtig“ und „falsch“ ist und anhand welcher Kriterien darüber zu entscheiden ist.
Bereits im März 2023 hat ebenfalls eine Grünen-Politikerin, Valentine Python, eine Interpellation im Parlament eingereicht, worin sie ihre Besorgnis darüber ausdrückt, „dass Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, und politische Parteien uneingeschränkt klimaskeptische Äusserungen machen dürfen“. Zudem stellt Python ernsthaft die Frage, ob „die Verbreitung klimaskeptischer Äusserungen nicht auch strafrechtlich verfolgt werden“ sollte.
Ausgrenzung und Konformitätsdruck
Diese beiden Vorstösse der Grünen lassen auf ein zweifelhaftes Verständnis von Demokratie und Meinungsfreiheit schliessen. Eine Demokratie lebt wesentlich von einer ausgewogenen Meinungsbildung, die von einer offenen und streitbaren Diskussion getragen und auf einem Wettbewerb der Argumente basiert. Politische Vorhaben wie die beiden der Grünen sind abzulehnen, begünstigen sie doch genau das, was mit Demokratie und Meinungsfreiheit unvereinbar ist, nämlich den Konformitätsdruck und die Ausgrenzung von Andersdenkenden.
Ideologisch enge Zeiten
Wir leben bereits in ideologisch engen Zeiten, in der oft kleine Gruppierungen die Meinungsfreiheit gefährden. Sie haben dies geschafft, indem sie sich in bestimmten Medien als Gruppierungen mithilfe von Lobbyarbeit ausgebreitet haben, ihre Sichtweise ständig als Mehrheitsmeinung dargestellt wird und Andersdenkende kaum mehr zu Wort kommen. Solche Entwicklungen sind seit geraumer Zeit in diversen politischen Bereichen zu beobachten, insbesondere bei Geschlechterfragen, der „Transgender“-Thematik oder dem Klimawandel. Dass dies möglich war, hängt auch mit der starken Vernetzung dieser politischen Kreise und der massiven politischen und medialen Förderung zusammen. Und weil kritisch denkende Menschen einfach schweigen.
Insgesamt fällt auf, wie auch bei komplexen Themen eine inhaltlich-differenzierte Berichterstattung oder politische Auseinandersetzung kaum mehr gepflegt wird. Auffällig war dies bei Corona oder aktuell beim Ukraine-Konflikt. Wenn sich plötzlich alle „einig“ sind und keine unterschiedlichen Meinungen mehr existieren oder im öffentlichen Diskurs auftauchen, sollte man sich fragen, in welchem Zustand sich unsere Demokratie und unsere Gesellschaft befinden.
Schweigespirale als Gefahr
Leider sind mittlerweile gerade die einstigen Aushängeschilder von Wissenschaft und Debatte, nämlich die Hochschulen, davon besonders betroffen, wo die moralisch-politisch aufgeladene „Woke-Kultur“ mit ihren „Dogmen“ zunehmend Einzug hält. Lange war diese traurige Entwicklung nur im angelsächsischen Sprachraum ein Thema. Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass auch die Schweiz davon nicht verschont bleibt. Jüngstes Beispiel sind die Auseinandersetzungen um die beiden Professorinnen Katja Rost und Margit Osterloh. Diese führten eine Studie zum Geschlechterverhalten, zu Rollenbildern und Karrierewünschen von Studenten und Studentinnen durch. Rost und Osterloh kamen zu dem Schluss, dass Studentinnen tendenziell andere Präferenzen als Studenten bezüglich Karriere und Familie aufweisen. Diese Ergebnisse passten gewissen Kreisen nicht und so liess der „Shitstorm“ nicht lange auf sich warten.
„Es ist letztlich eine kleine Gruppe“, wie Rost ausführt, „die laut und aggressiv auftritt“. Obwohl eine grosse Mehrheit manche Meinungen ablehnt, können sich gewisse Sichtweisen lange halten bzw. sogar durchsetzen, da die schweigende Mehrheit „sich nicht mit dieser lauten Gruppe anlegen mag und deswegen die eigene Meinung zurückhält“, sagt Rost. So dominiert eine kleine Minderheit die öffentliche Debatte und kann sich sogar gegen die Mehrheit durchsetzen. In der Soziologie ist dieses Phänomen unter dem Begriff „Schweigespirale“ bekannt – mit gravierenden Folgen für die Meinungsfreiheit.
Demokratie verlangt unseren Einsatz
Eine ausgewogene Berichterstattung, die auch Andersdenkende und Kritiker des gängigen „Zeitgeists“ einbezieht, hat spätestens seit Corona eine gefährliche Richtung eingeschlagen. Und wenn wir nicht aufpassen, wird unser freiheitlich-demokratisches Fundament mehr und mehr ausgehöhlt.
Die Demokratie gibt es nicht umsonst und verlangt immer auch unseren Einsatz als Bürger. „Wer in der Demokratie schläft, wacht in einer Diktatur auf“, sagt der Volksmund. Diesen Tendenzen weg von einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung hin zu einem Staat und einer Gesellschaft mit totalitären Zügen, die abweichende Meinungen rechtlich erschweren bzw. sozial ächten, ist mit aller Kraft entgegenzuwirken.
Wir brauchen eine lebendige Demokratie
Aufgrund dessen ist Glättlis parlamentarische Initiative ein gefährlicher Vorstoss in die falsche Richtung. Sein Ansinnen untergräbt unsere verfassungsmässig garantierte Meinungsfreiheit und offenbart die eigene politische Schwäche. Fehlen nämlich stichhaltige Argumente, dann soll offenbar eine „Wahrheitskommission“ unliebsame Meinungen beseitigen und diese als „Desinformation“ und „Fake News“ aus dem politischen und gesellschaftlichen Debattenraum verbannen. Zu Recht sagt deshalb die Journalistin Katharina Fontana: „Staatlich ‚informierte‘ Bürer und von einer Aufsichtsinstanz kontrollierte Politiker und Parteien sind das Letzte, was eine lebendige Demokratie braucht.“