Ein Bund ist mehr als ein Vertrag oder Interessensausgleich. Er impliziert Wohlwollen, Treue, Solidarität und Hilfsbereitschaft, Mitgefühl mit dem Leiden des Bündnispartners und Mitfreude mit seinem Wohlergehen. Was lehrt uns die im Morgartenbrief zum ersten Mal erwähnte „Eidgenossenschaft“? Lesen Sie die Predigt des Churer Weihbischofs Marian Eleganti zum Abschluss der Jubiläumsfeierlichkeiten “700 Jahre Schlacht am Morgarten” vom 15.11.2015:
Völker, Gesellschaften und Staaten leben von Erzählungen und Mythen der Vergangenheit, die Identität stiftend wirken und Haltungen inspirieren. Diese Erinnerungskultur ist wichtig. Dazu gehört auch, was Johannes Paul II. die Reinigung des Gedächtnisses nannte. Was erzählen wir unseren Kindern? Und wie erzählen wir es? Die Frage ist wichtig. Die eigene Geschichte sollte uns ja helfen, uns selbst zu verstehen, uns menschlicher, klüger und zukunftsfähiger zu machen. Beispielhafte Männer und Frauen der eigenen Vergangenheit, ihre Grosstaten, haben Vorbildcharakter und können buchstäblich gesellschaftsverändernde und staatstragende Bedeutung gewinnen.
Ihre Erinnerung und Verehrung aber muss auf Wahrheit gründen. Besonders Schlachtmythen haben es in sich. Mein Geschichtsunterricht in der 3. Primarklasse war noch stark inspiriert von den Erfahrungen des Aktivdienstes meiner Lehrer im zweiten Weltkrieg. Ich erinnere mich noch genau an die negativen Gefühle, die mein Bubenherz erfüllten, wenn ich das Wort „Habsburg“ hörte. Erst sehr viel später habe ich erfahren, was für liebe Menschen deren Nachfahren sind. Ich habe sozusagen den „Mythos“ Morgarten in der eigenen Psyche erlebt. Allzu leicht fallen Erzähler in Schwarz-Weiss-Folien, in Feindbilder und Heroisierungen des Eigenen bzw. Verachtung des Anderen. Diesbezüglich war ich geradezu fasziniert bei meinem Besuch des neuen Informationszentrums Morgarten. Wenn man wissen will, was ein Mythos ist und wie er wirkt, muss man sich die Zeit nehmen, sich dort auf spielerische, unterhaltsame und intelligente Weise einer Relektüre unserer Vergangenheit zu stellen. Das Ergebnis ist wie alle Wahrheit: differenziert und inspirierend.
Auch Religionen sind – in einem neuen philosophischen Terminus gesprochen – grosse „Erzählungen“, ganz besonders das Judentum und das Christentum, die unsere Identität am meisten beeinflusst haben. Was für eine humanisierende Wirkung geht doch vom Gleichnis des barmherzigen Samariters aus, vom Evangelium eines gekreuzigten Gottes, der für die Feinde betet, seine Arme ausbreitet, den Jüngern gebietet, das Schwert in die Scheide zu stecken, im Geringsten den Bruder zu sehen und die Schwester, Konflikte gewaltlos zu besiegen. Ich habe diese Bilder aufgenommen – in derselben Primarschulzeit wie die Erzählung von Morgarten. Das bedeutete für uns Kinder: einer alten, gebrechlichen Frau unaufgefordert die Tasche zu tragen, Blinden über die Strassen zu helfen, Abfälle nicht auf den Boden zu werfen, gemeinsames Eigentum zu schonen, älteren Personen den eigenen Sitzplatz anzubieten. Solche Erzählungen wie die genannte oder jene andere von der Steuermünze bauen eine Gesellschaft auf, inspirieren Tugenden, wirken staatstragend.
Bundesschlüsse, damals im Angesicht Gottes und unter Eidestreue geschlossen, zeigen die performative Kraft menschlicher Worte, die eine neue Wirklichkeit schaffen, einen Staat bilden und eine Nation aufbauen können. Ein Bund ist mehr als ein Vertrag oder Interessensausgleich. Ein Bund impliziert Wohlwollen, Treue, Solidarität und Hilfsbereitschaft, Mitgefühl mit dem Leiden des Bündnispartners und Mitfreude mit seinem Wohlergehen. Das ist auch heute noch so.
Auch die Ehe ist so ein Bundesschluss. Auf ihm gründet die Familie. Sie liegt dem Staat voraus. Er muss sie deshalb schon im eigenen Interesse auf jede nur erdenkliche Weise unterstützen, ohne „Lufthoheit über die Kinderbetten“ zu beanspruchen, das Erziehungsrecht der Eltern zu beschneiden, nachrückenden Generationen mit ideologischen Erziehungs-programmen und amtlich verordneten Sprachregelungen auf den Leib zu rücken, die der Selbstevidenz des Alltagsverstandes und der Erfahrung der Mehrheit der Bevölkerung widersprechen.
Was lehrt uns die im Morgartenbrief zum ersten Mal erwähnte „Eidgenossenschaft“?
• Dass wir auf unser Wort sollen bauen können, Versprechen zu halten sind und für immer gelten, auch das eheliche.
• Dass wir für einander einstehen und die Last der Zeit gemeinsam tragen.
• Dass Bindung an Gott nicht ipso facto – politisch gewendet –„Staatskirchentum“ oder „Gottesstaat“ bedeutet, dass sie nicht Pluralität und Toleranz unterdrückt, im Gegenteil, aus christlicher Sicht befördert, aber die Bitte an Gott „um seine Gnade” impliziert, auch auf Verfassungsebene.
• Dass das Kreuz in unserer Fahne und auf den Fahrzeugen unserer Hilfswerke „Christentum“ bedeutet: Nächsten-, Fremden- und Feindesliebe, aber auch Vernunft, Rechtschaffenheit und Verantwortung vor Gott, Humanität und Opferbereitschaft (rot), edle Absicht und Gesinnung (weiss), Ausgleich und Symmetrie (Kreuz): mit anderen Worten: Gerechtigkeit und Transzendenzbezug (Gottesbezug).
Es wäre schön, wenn diese Gedenkfeier uns darin bestärkte. Ich danke Ihnen.