Der viersprachige Slogan „WIR – NOUS – NOI – NUS“ stand als Symbol für die Solidarität der Schweizer während des Corona-Lockdowns auf Fähnchen zu lesen, die von unzähligen Balkonen herunterhingen. Doch was ausser der Angst vor einem Virus hält die Schweiz sonst noch zusammen?
Von Dominik Lusser
Angesichts der Pandemie zeigten sich die Schweizerinnen und Schweizer grossmehrheitlich von ihrer solidarischen Seite. Es ging ein Ruck durch die Gesellschaft. Man sass im gleichen Boot. Man half einander und alle fühlten sich für ihre Nächsten mitverantwortlich. Man war sich einig, dass nun alle an einem Strang ziehen müssen, um die Krise zu überwinden. Das Gemeinwohl stand im Mittelpunkt der Überlegungen, wenn man auch mit gutem Grund darüber streiten kann, ob das Abwägen zwischen dem Gesundheitsschutz und anderen, ebenso wichtigen Aspekten des Gemeinwohls gut gelungen ist.
Mit dem Rückgang der Infektionszahlen wurde das Unbehagen gegenüber den vom Bundesrat verordneten Zwangsmassnahmen grösser. Der wirtschaftliche Schaden wäre zu hoch und würde das Gemeinwohl auf längere Sicht mehr gefährden als das Virus, kritisierten die einen. Andere forderten die eingeschränkten Freiheitsrechte zurück. Schliesslich lebe man nicht in einer Diktatur. Heute läuft die Wirtschaft wieder einigermassen und die Schweizer geniessen grossmehrheitlich unbeschwert und in weitgehender Freiheit ihre Ferien und hoffen, dass die Wirtschaft wieder in Schwung kommt, ohne in eine tiefe Rezession zu rutschen.
Der bisherige Verlauf der Corona-Krise kann als Gradmesser genommen werden, was den Schweizerinnen und Schweizern heute besonders wichtig ist und wofür sie bereit sind, zusammenzustehen. Zu diesen Gütern gehören die Gesundheit und der Wohlstand. Auch denjenigen, die wegen und mit der Krise eine ökologische und soziale Neuausrichtung des gesamten Wirtschaftssystems fordern, geht es um die Sicherung ihrer materiellen Existenz.
Gefangen im Materialismus
Ob man nun eher der Gesundheit oder dem Profit den Vorrang gibt, was über die materielle Existenz und das physische Wohlbefinden hinausgeht, scheint in der Schweiz hingegen einen immer geringeren Stellenwert zu haben. Ob unsere Vorliebe eher dem Konsumtempel oder den Ökoprodukten vom Bauern nebenan gilt, wir sind durch und durch materialistisch geworden. Auch das ist in der Corona-Zeit deutlich zutage getreten. Während Supermärkte längst wieder öffnen durften und überfüllte Pendlerzüge ohne Maskenpflicht verkehrten, waren Gottesdienste noch immer verboten. Die übernatürlichen Güter, welche die Kirche im „Angebot“ hat, wurden als nicht systemrelevant eingestuft. Leider sogar von vielen Kirchenvertretern, die sich kaum dafür einsetzten, den Menschen den Zugang zu spiritueller Nahrung durch die gemeinsame Feier öffentlicher Gottesdienst zu ermöglichen.
Der dominierende Materialismus zeigte sich auch im Umgang mit den Risikogruppen. Alte und Kranke wurden teilweise so stark isoliert, dass man den Eindruck bekommen musste, hier würden Menschen auf potentielle oder tatsächliche Träger von Viren reduziert. In einem Hospiz wurde sogar engsten Verwandten den Zugang zu Sterbenden verwehrt, sodass – wie mir von einer Betreuerin berichtet wurde – ein verzweifelter Sohn eine Leiter zu Hilfe nehmen musste, um seine an Krebs erkrankte Mutter durchs Fenster noch einmal zu sehen.
Man muss sich ernsthaft fragen, was die Schweizer noch verbände, an welchen Werten sie sich gemeinsam orientieren könnten, wenn eine noch schlimmere materielle Krise – z.B. ein Totalkollaps der Wirtschaft oder eine weit gefährlichere Epidemie als Corona – hereinbräche. Was wäre, wenn der materielle Wohlstand wegfiele, wenn keine Hoffnung auf Heilung von einer tödlichen Krankheit mehr bestünde oder wenn ein überlebensnotwendiger Impfstoff nicht für alle reichen würde? Hätte die Schweiz die nötigen Ressourcen, um auch eine solche Krise zu meistern, ohne in die Barbarei abzugleiten, in der jeder nur noch sich selbst der Nächste ist?
Extremsituationen locken, wie Geschichten aus jedem Krieg zeigen, das Beste und das Übelste aus dem Menschen hervor. In der Katastrophe zeigt jeder sein wahres Gesicht, sein Herz, das, was ihn zutiefst bewegt. In solchen Situationen kann es entscheidend sein, ob jemand an eine Hoffnung glaubt, die über den Tod hinausgeht, oder ob er an diesem Leben hängt, als wäre es alles. Ein Anker im Jenseits kann sich als Immunsystem erweisen, das eine Gemeinschaft auch durch die schlimmsten Krisen durchtragen kann. Sich geborgen zu wissen in der Hand Gottes oder zu meinen, man sei der alleinige Herr des eigenen Schicksals, kann einen gewaltigen Unterschied machen. Ob man noch hoffen kann, alles werde – wenn auch erst im Jenseits – gut ausgehen, oder ob man alles nur in diesem Leben erhofft, und wenn man es nicht bekommt, in Verzweiflung versinkt, ist für das Zusammenleben der Menschen in Familie, Gemeinde und Staat von zentraler Bedeutung.
Das zeigt sich nicht erst in der Katastrophensituation. Während die westliche Welt gegen ihre Vergangenheit in Aufruhr ist, treibt sie, wie Martin Grichting jüngst in der NZZ bemerkte, die „Sklaverei 2.0, die Leihmutterschaft“ voran: „Gegenstand eines Leihmuttervertrages ist ja nichts anderes als die Lieferung eines Kindes gegen die Bezahlung einer vereinbarten Summe.“ In aufgeklärten Gesellschaften habe damit zum ersten Mal ein Mensch einen Preis. „Die Würde des Menschen, Mann einer Frau bzw. Frau eines Mannes zu sein und in diesem natürlichen Rahmen eigenen Kindern das Leben zu schenken, wird heute auch durch die Samenspende und die Leihmutterschaft unterminiert. Denn diese Praktiken sind anfanghaft polygam bzw. polyandrisch.“ Nach der Verabschiedung des Christentums werde die „Ehe für alle“ in solch menschenunwürdige Konstellationen münden. Eine laut Grichting logische Konsequenz des Glaubensverlusts in unserer Gesellschaft.
Nietzsche-Apokalypse?
Schon Romano Guardini habe, so Grichting, unter dem Eindruck des „Dritten Reichs“ die These formuliert, dass die unveräusserliche Personenwürde und die Grundrechte an sich zwar natürlich, mit dem Menschsein gegebene Werte seien. „Sie könnten aber erst unter dem Einfluss des Christentums, das den Menschen als Geschöpf Gottes achtet, wirkkräftig werden. Es sei deshalb die Unredlichkeit der Neuzeit gewesen, sich die ethisch und politisch bedeutsamen Früchte des Christentums anzueignen, jedoch deren Garanten, den christlichen Glauben, wegzutun.“ Und Guardini habe prophezeit, dass diese „Nutzniessungen“ aufhören würden. „Denn die Bejahung und die Pflege von Werten, die dem christlichen Glauben entliehen seien, überdauerten nur eine Weile dessen Verlöschen und gingen dann allmählich verloren.“
Auch in jüngerer Vergangenheit gab es gewichtige Stimmen, die im Kern ganz Ähnliches ausdrückten, wie Nathan Gardels in der NZZ treffend beschreibt: Wenn wir nicht mehr an die Verbindung zwischen dem Menschen und dem Sakralen glaubten, dann, so postuliert der polnische Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz, verlören die Werte, die der liberalen Demokratie zugrunde lägen, ihre Substanz; zurück bliebe eine tödliche Mixtur aus Nihilismus und technologischem Wagemut. Und der Philosoph Leszek Kolakowski bringt, so Gardels, die Sache folgendermassen auf den Punkt: „Wenn die Kultur den Sinn für das Heilige verliert, verliert sie allen Sinn.“
Über die möglichen gesellschaftlichen Folgen des von Nietzsche postulierten Tod Gottes sinnieren nicht nur Intellektuelle. Das daraus resultierende Lebensgefühl ist längst auch in Kunst und Kultur, Film und Spiel erfahrbar geworden – z.B. im erfolgreichen Survival-Horror-Computerspiel THE LAST OF US, dessen zweiter Teil 2020 herauskam. „Das Spiel ist die hoffnungslose Hochauflösung der Nietzsche-Apokalypse“, schreibt der Blogger Josef Jung.
„Im Spiel THE LAST OF US mutiert im Jahr 2013 ein Cordyceps-Pilz. Seine Sporen nisten sich im Menschen ein und beginnen die Kontrolle zu gewinnen. (…) Eine Infektion ist unheilbar, wer nicht an ihr stirbt, wird zum Zombie. Man überlebt in dieser pandemischen Welt nicht, indem man nett ist, sondern indem man tötet, um nicht getötet zu werden. Es gibt keine Hoffnung, kein Heilmittel, keine Besserung. Die einzigen Akteure sind Tote, Infizierte und (noch) Lebende. Überleben ist die einzige Maxime.“ Die dem Spiel zugrundeliegende Frage ist laut Jung, wie sich der Gottestod auswirkt, „wenn die Schranken des Wohlstands und der Ordnung wegbrechen.“ Es zeige das Dunkle, den Schatten des Wohlstandshedonismus, der zynisch zusammenbreche, wenn das Licht ausgehe.
Noch nicht aller Tage Abend
Trotz dieser gesellschaftlichen Trends gibt es aber nach wie vor viele Menschen, die nicht nur für sich, sondern auch für die ganze Gesellschaft beten, um das Düstere abzuwenden, auf das wir – nachdem sich ein Humanismus ohne Gott als Irrlicht erwiesen hat – mit grosser Wahrscheinlichkeit zusteuern. Denken wir beispielsweise an die Bewegung „Gebet für die Schweiz“, die sich jeweils um den 1. August zum Gebet für unser Land versammelt. Oder erinnern wir uns an die in vielen Augen wunderbare Rettung der Schweiz vor dem Zweiten Weltkrieg, die in unzähligen Gebeten erfleht worden war.
Christen sind keine weltfremden Jenseitsvertröster. Sie sahen es seit jeher als ihre Aufgabe an, auch für irdische Belange zu beten, stellvertretend für diejenigen, die dies nicht tun wollten oder konnten. Und so berichtet schon Eusebius von Cäsarea († um 340) in seiner Kirchengeschichte von einem Brief des heidnischen Kaisers Mark Aurel, worin dieser bezeugt, dass sein Heer, als es in Germanien daran war, infolge Wassermangels zusammenzubrechen, durch das Gebet der Christen gerettet worden sei.
So lange, und sei es nur durch eine Minderheit, Gott die Ehre erwiesen wird, kann eine Gesellschaft nicht ganz tot sein. Allerdings ist es angesichts des schwindenden Glaubens höchste Zeit zu beherzigen, was der Obwaldner Einsiedler Niklaus von Flüe im 15. Jahrhundert gesagt hat: „Was die Seele für den Leib ist, ist Gott für den Staat. Wenn die Seele aus dem Körper weicht, dann zerfällt er. Wenn Gott aus dem Staat getrieben wird, ist er dem Untergang geweiht.“