Twitter, Instagram, Snapchat, WhatsApp, Facebook – es gibt viele Möglichkeiten, sich stundenlang mit dem Smartphone zu beschäftigen. Und es gibt viele Möglichkeiten, sich selbst geschönt darzustellen und das eigene Leben sozusagen online „aufzumotzen“. Diesem Trend stellt sich eine weitere App entgegen: „BeReal“ will vor allem junge Nutzer dazu animieren, sich authentisch zu präsentieren. Doch ist diese App wirklich so harmlos?
Von Ursula Baumgartner
Es ist noch nicht so lange her, trotzdem klingt es wie eine Geschichte aus uralten Zeiten. Früher gingen Kinder draussen spielen und waren – oh Schreck! – telefonisch über Stunden nicht erreichbar. Familien fuhren zwei Wochen in den Urlaub – und kamen mit nicht mehr als 36 Bildern zurück. Schwer vorstellbar in Zeiten, in denen selbst der Obstsalat aus 17 Winkeln fotografiert werden muss. Doch einen unschlagbaren Vorteil hatte diese Zeit definitiv: Niemand brauchte die Ermahnung, „real“ zu sein, denn dazu gab es eigentlich keine Alternative.
„Sei echt!“
Heute ist das anders. Heute muss man unsere Jugendlichen daran erinnern: „Be real – sei echt, sei du selbst!“
„BeReal“ heisst denn auch die Social-Media-App, die zwei Franzosen – Alexis Barreyat und Kevin Perreau – 2020 entwickelten. Bereits 2022 nutzten etwa drei Millionen Menschen sie täglich, bis April 2023 wurde sie weltweit über 100 Millionen Mal heruntergeladen. Nutzer müssen mindestens 13 Jahre alt sein. Sie geben ihren Namen sowie ihre Telefonnummer an und registrieren sich dann unter einem Benutzernamen. Bereits damit führt sich „BeReal“ selbst ad adsurdum.
Die App fordert die Benutzer dann einmal täglich zu einem nicht vorher ermittelbaren Zeitpunkt auf, ein Foto zu posten. Nach Öffnung der App hat der User zwei Minuten Zeit, ein Bild zu schiessen und hochzuladen. Der Zeitdruck soll dafür sorgen, dass das Foto möglichst ungefiltert und ungeschönt ist – real eben. Postet der User das Foto erst später, erhält es den Vermerk „late“ (was gerade unter Jugendlichen nicht wenig Druck erzeugt). Der Benutzer kann selbst entscheiden, ob nur Freunde die eigenen Fotos sehen oder ob er sie mit der „Discovery“-Funktion für einen grösseren Kreis freigeben möchte. Mit einem „Realmoji“ kann man auf Fotos anderer reagieren. Nach 24 Stunden verschwinden die Bilder – oder sind zumindest nicht mehr einsehbar. Doch auch hier gilt: Was einmal im Internet war, bleibt im Internet.
Hält „BeReal“, was es verspricht?
Ist nun „BeReal“ tatsächlich die Lebensverbesserer-App, für die sie sich ausgibt? Zweifel sind angebracht. Zum einen verlangt das enge Zeitfenster nach der Push-Benachrichtigung, dass die User ihr Smartphone stets bei sich tragen. Allein das sorgt dafür, dass sie wohl wiederum weniger Zeit in der realen Welt verbringen, wenn die virtuelle Welt dauerhaft nur einen Handgriff entfernt ist.
Zum anderen birgt eine Besonderheit der App eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Denn eigentlich postet man täglich zwei Bilder, die ineinander als eine Art Collage gespeichert werden. Die Kamera wird bei „BeReal“ dual genutzt. Man macht also ein Foto von dem, was gerade vor einem ist (Blick vom Balkon oder der zuvor angesprochene Obstsalat). Währenddessen schiesst die Kamera aber auch noch ein Selfie, das dann im Kleinformat im anderen Foto zu sehen ist.
Was man damit alles preisgibt, ist mit Sicherheit nicht jedem 13-Jährigen klar. Denn statt eines Bildes in eine Richtung postet man so auf jeden Fall eine beidseitige Ansicht seines aktuellen Aufenthaltsortes. Und ob wohl jeder Jugendliche jedes Mal darauf achtet, dass nichts zu Privates auf den Bildern zu sehen ist? Dass andere, die zufällig mit auf dem Foto sind, vor der Veröffentlichung ihr Einverständnis geben müssen? Dass man die Standortfunktion extra ausschalten muss, wenn man die anderen nicht über den eigenen Aufenthaltsort informieren möchte?
Kein harmloser Zeitvertreib
Wovon die „Stasi“ in der DDR nur träumen konnte, das schaffen heute Apps und Smartphones. Millionen von Menschen machen sich überwachbar, kontrollierbar und berechenbar. Nein, „BeReal“ ist kein harmloser Zeitvertreib für Jugendliche und bringt sie auch nicht intensiver in die Realität, sondern birgt ernsthafte Gefahren. Nicht umsonst nennt sogar Entwickler Alexis Barreyat sie die „erste unkontrollierbare Foto-Sharing-App“. Eltern, deren Kinder diese App nutzen, sollten ihnen dringend diese Nachteile vor Augen führen. Und im Idealfall sorgen sie durch Förderung ihrer Talente, durch Familienaktivitäten und gemeinsame Unternehmungen dafür, dass das Kind die Ermahnung „Be real!“ gar nicht mehr braucht – weil es nämlich längst „real“ ist.