Woher kommen unsere negativen Altersbilder? Und warum sind ältere Menschen „wertvolle Organe“ einer Gesellschaft? Anlässlich des Welttages der Grosseltern und Älteren am 28. Juli suchte das österreichische Institut für Ehe und Familie (IEF) das Gespräch mit Mag. Christina Ristl, Forscherin in der Abteilung für Psychologie des Alterns an der Universität Wien. Die Forscherin beschäftigt sich unter anderem mit Altersbildern in der Gesellschaft: Woher kommen die negativen Bilder, die wir im Kopf haben, wenn es um das „Altsein“ geht und welche Auswirkungen haben diese auf das „Altwerden“? Wie sieht ein Umfeld aus in dem man gut altern kann? Und zum Abschluss: Warum sind Grosseltern und ältere Menschen „wertvolle Organe“ einer Gesellschaft?
Sabrina Montanari, IEF
IEF: Frau Ristl, wenn es um das Altern geht, dann stellt man sich typischerweise weisse Haare und ein schlechter werdendes Gedächtnis vor. Aber gibt es neben dieser klischeehaften „Verluste“ auch „Gewinne“, die mit dem sogenannten „dritten Alter“ in Verbindung gebracht werden können?
Ristl: Man erwartet, dass Altern auf jeden Fall mit Verlusten einhergeht. Aber im Leben gibt es immer Gewinne und Verluste: Ein Grundschulkind kann kein Auto fahren, so gerne es dies auch tun würde. Genauso wenig kann ein Pensionist in die Grundschule zurückkehren. Altern sollte man nicht als „Leiter“ sehen, nach dem Motto „erst geht es bergauf und dann wieder bergab, weil man Fähigkeiten verliert und wieder zum Kind wird“. Vielmehr ist Altern als Transformation zu sehen: Man verändert sich, sammelt Erfahrungen, und zwar ein Leben lang. Erwarten wir nur Negatives vom Älterwerden, gehen wir weniger auf Erfolgserlebnisse zu und schaffen damit unsere zukünftigen Verluste. Es gibt Studien, die zeigen, dass Menschen, die positive Erwartungen an das Alter haben, im Durchschnitt sieben Jahre länger leben. Sie haben sogar eine geringere Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken.
IEF: Haben Sie ein konkretes Beispiel für „Gewinne“?
Ristl: Ja, ältere Menschen sind zum Beispiel durchaus mit ihrem Leben zufriedener als jüngere. Allerdings mit einer Ausnahme und unter drei Voraussetzungen. Zur Ausnahme: Es gibt den Trend, dass drei bis fünf Jahre vor dem Tod die negativen Emotionen zunehmen. Dieses Muster ist als “terminal decline“ bekannt. Es könnte allerdings damit zu erklären sein, dass wir heutzutage zwar deutlich länger leben, oft aber mit Krankheiten. Zu den drei Faktoren hingegen, die Glück und Zufriedenheit vorhersagen, zählen:
- Bin ich umgeben mit Menschen, die mich als wertvoll betrachten und die ich als wertvoll betrachte?
- Sehe ich Sinn im Leben?
- Kann ich Gutes tun?
Das zeigt noch einmal deutlich, dass kein Mensch eine Insel ist, sondern dass wir miteinander verwoben sind…
IEF: Da wären wir auch schon beim nächsten Thema: Zu Ihren Forschungsschwerpunkten zählt das Phänomen des „Ageism“ als sozialer Faktor im Alterungsprozess. „Ageism“ ist negative Diskriminierung aufgrund des Alters. Werden ältere Menschen in Österreich diskriminiert?
Ristl: Die grösste negative Diskriminierung, die wir uns im Alter geben, ist uns selbst gegenüber. Wenn ich mich mit 30 Jahren mal aussperre, mache ich mir keine grossen Gedanken. Mit 60 Jahren denke ich mir: „Oh, ich werde alt!“. Wenn ich aber glaube, dass mein Leben mit dem Alter bergab geht, geht es wirklich bergab. Ein anderes Beispiel betrifft den Arbeitskontext. Da denken wir uns oft, dass ältere Mitarbeiter sich sicher nicht gut umstellen können, zum Beispiel, wenn es um den Umgang mit Technik geht. Das stimmt aber nicht! Sehr wohl können sie das. Sie brauchen nur mehr Zeit, bringen aber dafür auch mehr Erfahrung mit. Die Geschwindigkeit unseres Hirns, die nimmt ab einem gewissen Alter ab, aber es gibt andere Fähigkeiten, die zunehmen können, wie zum Beispiel die Alltagskompetenz, das Muster-erkennen, alles was wir unter dem Begriff der „kristallinen Intelligenz“ zusammenfassen können. Und es ist lustig, weil die prozesshafte Intelligenz eigentlich schon ab einem Alter von 26 Jahren rapide abnimmt. Zwischen 60 und 80 Jahren nimmt sie in etwa nur noch um zwei Prozent ab.
IEF: Stimmt es, dass eine der Auswirkungen von Altersdiskriminierung die ist, dass alte Menschen „unsichtbar“ werden? Entspricht dies auch der Tendenz alte Menschen zunehmend nicht mehr als Individuen, sondern einfach als „die Alten“ wahrzunehmen?
Ristl: Ja, jungen Menschen fallen alte Menschen oft nicht auf. Dies liegt zum Teil daran, dass sie jünger geschätzt werden.
Haben jüngere Menschen häufiger mit älteren Menschen zu tun, gibt es weniger Angst vor dem „Altsein“ und weniger Stereotype. Man beginnt die Leute so zu sehen wie sie sind. Daher sind soziale Kontakte sehr wichtig, um Altersdiskriminierung aufzuweichen. Die „Generativität“ (die Fähigkeit zur Sorge und Fürsorge) ist ebenso sehr wichtig, weil sie es möglich macht, die Grenzen zwischen „jung“, „mittel-alt“ und „alt“ zu sprengen. Sobald wir diese Grenzen sprengen, sehen wir mehr altruistisches Verhalten: Dann denken Ältere an Jüngere und andersrum – Ältere wollen dienlich sein, Jüngere gehen für Ältere gerne einkaufen. Mein Wunschtraum wäre, dass wir erkennen, dass jede Altersklasse ihren Platz hat und dass jeder etwas beizutragen hat. Da wären wir auch bei den vorhin erwähnten Faktoren „Dankbarkeit und Sinn“, die ein zufriedenes Leben fördern und erhalten.
IEF: Dankbarkeit und Sinn – als Kernfaktoren, die uns glücklich machen und die gewissermassen die Angst vor den Anderen, in unserem Fall vor den „Alten“, wegnehmen – da sprechen Sie eigentlich die Kernthemen von Papst Franziskus‘ Botschaft zum Welttag der Grosseltern und älteren Menschen an. In der Botschaft heisst es, dass die „Einheit der Lebensabschnitte“ der „wahre Bezugspunkt für die Wertschätzung des menschlichen Lebens insgesamt“ ist. Diese Einheit sei allerdings durch eine „individualistische Kultur“ gefährdet, die uns unter anderem dazu bringt, älteren Menschen nicht mit Dankbarkeit zu begegnen, sondern als „Kostenfaktor” zu sehen. Könnte man sagen, dass Ageism in dieser „Wegwerfkultur“ seinen Ursprung findet?
Ristl: Es gibt allgemein zwei starke (soziale) Normen, die ältere Menschen erfüllen sollen: Sie sollen aktiv bleiben, sich einsetzen für die Gesellschaft und möglichst fit bleiben, um wenig Kosten zu verursachen. Oder: Sie sollen sich zurückziehen, um den Jungen ein viel besseres Leben zu ermöglichen.
Die berühmteste Theorie, die Ageism zu erklären versucht, ist die Stereotype Embodiment Theory. Diese geht davon aus, dass Stereotype schon früh in der Kindheit wahrgenommen werden: Wir hören als Kinder, wie über unsere Grosseltern gesprochen wird, sehen später Anti-Aging Produkte und denken uns, wir müssen uns nicht dagegen wehren, weil wir eh (noch) nicht dazu gehören. Dann werden wir selbst älter und merken, dass alt werden gar nicht so schlimm ist, wie wir erwartet hätten. Aber es ist ein zunehmendes Internalisieren von Stereotypen, die schlagend werden, wenn wir uns selbst als „alt” definieren und das befürchtete, erwartete Verhalten zeigen.
IEF: Ich frage mich, ob man sagen kann, dass hinter diesen auf den ersten Blick komplett gegensätzlichen sozialen Normen die Wertvorstellung mitschwingt, dass man nur etwas wert ist, wenn man etwas leistet: „Ich darf andere nicht brauchen, wenn dann nur die anderen mich“, was natürlich ein Paradox ist… Der Papst spricht von der „Illusion“, die uns bereits in der Jugend begleitet, dass wir niemanden brauchen und ohne Bindung leben können. Diese Illusion entpuppe sich aber spätestens im Alter als Trugbild. Ein gesunder Umgang mit dem Thema Altern könne uns genau dies lehren: Wir schaffen uns nicht alleine!
Ristl: Ja, das Ideal der Unabhängigkeit ist absurd, weil man die ganze Lebensspanne eigentlich schon auf andere angewiesen ist. Wir könnten jetzt nicht einmal schreiben, hätten nicht andere diesen Stift für uns gemacht. Aber es ist einfach in unseren Köpfen, dass es schlimm ist, wenn sich andere um einen kümmern müssen. Das müsste aus den Köpfen raus und da wird es auch schon politisch. Man müsste eine Sorgekultur schaffen, die möglich ist.
Wer soll sich um mich kümmern? Jemand, dem ich vertrauen kann. Ich denke, das könnte man gesellschaftlich klären. Aber dadurch, dass wir in einer extrem kurzen Zeit viel, viel älter werden, müssen sich diese Strukturen erst herausbilden. Ich denke aber, es gibt gerade viel Motivation, diese Pflegephase gut zu gestalten. Man muss aber auch sagen, 60 bis 90 – das sind so unterschiedliche Lebensabschnitte! Wir würden ja nie auf die Idee kommen, 40- bis 70-Jährige über einen Kamm zu scheren. Da muss man sich differenzierte Ansätze überlegen.
IEF: Ich mag es, mir ältere Menschen als „Organe“ einer Gesellschaft vorzustellen, und zwar bewusst nicht als Elemente, sondern als überlebenswichtige Organe, die auch eine „Funktion” haben. Genauso wie man der Jugend sagt, sie seien die „Zukunft eines Landes“, frage ich mich: Was lernen Kinder vor allem von Grosseltern? Und wie wichtig sind ältere Menschen für eine Gesellschaft?
Ristl: Kinder profitieren extrem von Grosseltern. Kinder, die Grosseltern als wichtige Bezugsperson neben den Eltern haben, sind emotional stabiler und haben weniger Depressionen. Wie die grosse Pädagogin Montessori sagen würde: „Es braucht das Dorf, um ein Kind zu erziehen“. Grosseltern können „lustvoller“ mit der Erziehung der Enkelkinder umgehen, da die Haupterziehung und Hauptverantwortung bei den Eltern liegt. Auch Grosseltern profitieren davon, mit ihren Enkelkindern Zeit zu verbringen. Allerdings nur solange die Hauptverantwortung bei den Eltern des Kindes liegt.
IEF: Nicht alle älteren Menschen sind Grosseltern. Welche, würden Sie sagen, ist die „Funktion“ von alten Menschen in der Gesellschaft?
Ristl: Wissenschaftlich beantwortet: Sie sind eine „soziale Ressource“ durch freiwillige Arbeit und indem sie Vorbilder sind, zum Beispiel in der Arbeitswelt.
IEF: Und wie wichtig sind „Wurzeln“ für eine Gesellschaft? Konkret: Gibt es Studien, die analysieren, inwieweit es für meine Entwicklung hilfreich ist, schon als Kind von Opas Leben zu hören oder später von der Vergangenheit meiner alten Nachbarin zu erfahren?
Ristl: In der psychologischen Forschung gibt es nicht viel dazu, vielleicht in der soziologischen Forschung. Aber alles, was unsere Resilienz fördert, ist förderlich. Und jedes Wissen, das uns andere in ihrer Menschlichkeit sehen lässt, ist ein Resilienzfaktor. Es lässt uns widerstandsfähiger werden. Ich persönlich glaube, dass ältere Menschen ein Resilienzfaktor sind: „Mein Opa hat es damals geschafft, ich schaffe es auch.“ Für mich ist ihre wichtigste „Funktion“ die Vorbildfunktion. Auch lehren sie uns mit Verlusten gut zu leben, Gewinne zu erkennen und letztendlich gut sterben zu können.
IEF: Mit Verlusten gut zu leben und Gewinne zu erkennen, das ist eine besondere Form der Dankbarkeit. Meine Intuition sagt mir, dass, wenn man sich nicht vorstellen kann, mit dem (menschlich betrachtet) „grössten Verlust“, mit dem Tod, einigermassen gut umgehen zu können, man vermutlich auch nicht gut leben kann. Stimmt das?
Ristl: Richtig! Cicero meinte: das Wichtigste an Erziehung sei, gut sterben zu können. Und dafür gibt es nur das höhere Alter. Wenn wir diese Altersklasse abschneiden, schränken wir uns selber als Menschen ein.
Quelle: IEF