„Organspende rettet Leben!“ wird von Seiten der Befürworter häufig behauptet. Doch lässt sich eine so komplexe Thematik wie Organtransplantation wirklich auf so einen kurzen Nenner bringen? Müsste man nicht auch bedenken, dass für jede Organtransplantation zunächst ein Mensch sterben muss? Der Winterthurer Arzt Dr. Alex Frei ist Vizepräsident der Vereinigung „Ärzte und Pflegefachpersonen gegen Organspende am Lebensende“ (ÄPOL). Im Interview mit Ursula Baumgartner von Stiftung Zukunft CH erläutert er seine kritische Haltung zur sogenannten postmortalen Organspende.
Zukunft CH: Mitte September 2023 stimmte der Nationalrat einer Teilrevision des Transplantationsgesetzes zu. Was wurde konkret beschlossen?
Dr. Frei: In dieser Abstimmung ging es vor allem um kleinere Anpassungen bei der Lebendspende. Diese stellt für uns ohnehin kein Problem dar. Problematisch ist die sogenannte postmortale Spende, denn die Spender sind nicht tot bei der Organentnahme.
Zukunft CH: Unter anderem wurde bei der Abstimmung über das Überkreuz-Lebendspende-System gesprochen. Was versteht man darunter? Welche Vor- oder Nachteile sind damit verbunden?
Dr. Frei: Bei der Lebendspende geht es meist um die Niere. Ausser der Niere kann man nur Teile der Leber lebend spenden.
Das Problem bei der Organspende ist ja, dass das gespendete Organ passen muss, dass Spender und Empfänger eine gewisse Übereinstimmung haben, damit das Organ nicht abgestossen wird. In vielen Fällen würde ein Angehöriger einem Familienmitglied eine Niere spenden, doch die beiden passen genetisch nicht zusammen. Bei der Überkreuz-Lebendspende wird nun ein anderes Paar mit der gleichen Situation gesucht, wo die Spende über Kreuz möglich ist, so dass beide Patienten zu einem passenden Spenderorgan kommen.
Einen Nachteil sehe ich in der Gefahr, dass auf eine möglicherweise spendenwillige Person Druck ausgeübt wird.
Zukunft CH: Die SVP hatte beantragt, Organspenden nach permanentem Herz-Kreislauf-Stillstand zu verbieten. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Wie beurteilen Sie diese Ablehnung?
Dr. Frei: Nationalrätin Verena Herzog (SVP) und ich hatten diesen Antrag recht kurzfristig ausgearbeitet. Immerhin 33 SVP-Politiker stimmten dafür. Das Gegenargument der meisten, die den Antrag ablehnten, lautete: „Die Diagnosen werden sehr genau gemacht, wir glauben den Transplantationsmedizinern.“
Zukunft CH: Das ist ja prinzipiell eine schöne Grundhaltung. Was spricht denn dann gegen die Organspende nach permanentem Herz-Kreislauf-Stillstand?
Dr. Frei: Man unterscheidet zwei Arten bei der sogenannten postmortalen Spende, einmal die Organspende nach Hirntod, in Fachkreisen mit DBD abgekürzt, und einmal die nach Herz-Kreislauf-Stillstand, unter Medizinern als DCD bezeichnet. Letztere ist heute immer häufiger. Bei dieser Form will man Menschen sterben lassen, die noch nicht hirntot sind, aber eine sehr schlechte Prognose haben. So werden die Beatmungsmaschinen gestoppt und die Gabe von Blutdruckmedikamenten beendet. Nach einigen Minuten steht das Herz still. Fünf Minuten nach dem Herzstillstand beginnt man mit der Hirntoddiagnose und dann mit der Organentnahme. Essentiell für die Feststellung des Hirntods ist jedoch die Irreversibilität, d.h., dass die Funktionen des Gehirns unwiederbringlich erloschen sind. Dies kann man nur dadurch überprüfen, dass man die dafür notwendigen Tests in einigem zeitlichen Abstand wiederholt.
Die Hirntoddiagnose bei DCD-Fällen ist wertlos, da die Bedingungen nicht erfüllt sind. Der Patient darf dabei beispielsweise nicht unter dem Einfluss von Medikamenten stehen. Patienten mit permanentem Herz-Kreislauf-Stillstand tun dies aber noch. Man müsste hier also eher von einer Hirnausfallsdiagnose sprechen. Dieser Ausfall muss aber nicht unbedingt irreversibel sein. Auch können Patienten, deren Herz mehr als fünf Minuten aussetzte, manchmal mit guten neurologischen Befunden reanimiert werden. So kann man also nicht ausschliessen, dass sich das Gehirn eines DCD-Patienten bei entsprechender Versorgung nicht doch wieder erholen könnte.
Zukunft CH: Für die Organentnahme muss bei den Patienten der Kreislauf künstlich wieder in Gang gebracht werden. Hierbei verschliesst man jedoch die Blutgefässe, die zum Gehirn führen. Welchen Zweck hat diese Praxis?
Dr. Frei: Früher intubierte und beatmete man die Spender nach dem fünfminütigen Herzstillstand sofort wieder und entnahm die Organe dann unter starker Kühlung des Körpers. Heute bedient man sich oft der sogenannten Normothermen Regionalen Perfusion, kurz NRP. Das bedeutet, dass man die Körpertemperatur beibehält und künstlich nur die Organe durchblutet, die man entnehmen will, also nur den Brust- und Bauchraum. Dazu ist der Körper an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Die Durchblutung des Gehirns wird verhindert, indem man an einer bestimmten Stelle einen Ballon in die Aorta einsetzt. Franz Immer, der CEO von Swisstransplant, beteuert, dies diene nur dazu, dass die benötigten Organe optimal versorgt würden. Immer hat jedoch selbst an einer Studie mitgewirkt, die einen ganz anderen Grund für dieses Vorgehen angibt. Man will verhindern, dass durch die Durchblutung des Gehirns möglicherweis Schmerzempfinden und sogar Bewusstsein zurückkehren. So sicher ist man sich wohl nicht, dass dies nicht passieren könnte und der Patient wirklich tot ist. In Spanien ist es sogar üblich, die Organentnahme sofort abzubrechen, wenn der Ballon verrutscht oder zu schwach aufgeblasen ist.
Zukunft CH: Prof. Coimbra, ein brasilianischer Neurologe, vertritt die These, dass Patienten durch die Untersuchungen bei der Hirntoddiagnose, v.a. beim Apnoe-Test, erst irreversible Schäden am Gehirn erleiden. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?
Dr. Frei: Wenn die Diagnose zu früh im Krankheitsverlauf gestellt wird, dann kann das sein. An sich beginnt man mit der Hirntoddiagnose aber erst, wenn das Gehirn über längere Zeit hinweg nicht mehr durchblutet wurde. Wenn also die Diagnose korrekt erstellt wird, sehe ich dieses Problem nicht.
Zukunft CH: Bei der Diagnose des Hirntodes werden Reflexe überprüft. Kann man anhand der fehlenden Reaktion sicher ausschliessen, dass der Patient die Reize mitbekommt?
Dr. Frei: Man geht davon aus, ganz sicher sagen kann man es aber nicht. Beim Herz-Kreislauf-Stillstand ist, wie gesagt, das Hirn nicht unbedingt irreversibel ausgefallen. Die Irreversibilität des Ausfalls könnte man nur durch einen erneuten Test nach einer gewissen Zeit, z.B. nach einer Stunde, nachweisen.
Zukunft CH: Gibt es Menschen, die nach einem Hirntod wieder aufgewacht sind und in ein normales Leben zurückgefunden haben?
Dr. Frei: Wenn das passiert, dann waren sie nicht wirklich hirntot, das heisst, es wurde keine saubere Diagnose gestellt.
Zukunft CH: Angeblich können hirntote Patienten bei der Organentnahme schwitzen, Bewegungen ausführen und der Blutdruck kann steigen. Wie lässt sich das erklären, wenn die Patienten tot sind?
Dr. Frei: Schulmedizinisch betrachtet kann man dies auf Reflexe des Rückenmarks zurückführen. Doch die Frage bleibt: Was passiert beim Sterben? Nimmt der Patient wirklich nichts wahr? Aus der Nahtodforschung gibt es hier beunruhigende Berichte – Patienten, die erzählen, sie hätten sich selbst von oben gesehen und alles gehört, was im Raum gesprochen wurde. Reflexartige Muskelreaktionen können zudem zu Verspannungen führen. Dies könnte erklären, warum Organspender Berichten zufolge nach der Organentnahme oftmals angespannt oder sogar gequält aussehen. Und wir wissen nach wie vor nicht, was die Organspende mit den Spendern macht.
Zukunft CH: Wie meinen Sie das?
Dr. Frei: In gewisser Weise geht das Leben des Spenders ja weiter, indem seine Organe in den Empfängern weiterleben. Viele Empfänger spüren dies. Der Schriftsteller David Wagner, der mit einer Spenderleber lebt, berichtet von dem Gefühl, nicht allein im Körper zu sein. Sein Körper habe sich verändert, er trage jetzt Gene und Proteine seiner Spenderin in sich. Daher nennt er andere Patienten, die Organe von der gleichen Spenderin erhielten, seine „Transplantationsgeschwister“. Der US-amerikanische Neuropsychologe Paul Pearsall hat Empfänger von Spenderherzen begleitet. Dabei bemerkte er, dass viele Patienten nach der Transplantation plötzlich Parallelen zu ihren Spendern zeigten. Dies äusserte sich beispielsweise in einem geänderten Kunst- und Musikgeschmack oder in der Ernährungsweise. Angehörige von Organspendern finden es oft schön, wenn sie beim Organempfänger den Herzschlag ihres geliebten Verstorbenen noch spüren. Doch wer sagt, dass es für die Spender nicht ein Desaster ist?
Zukunft CH: Vielen Dank für das Gespräch!