Im Februar 2017 ist das von seiner Thematik her topaktuelle Buch „Das Migrationsproblem – Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung“ von Rolf Peter Sieferle erschienen. Das Werk des im September 2016 verstorbenen Geschichts-Professors der Universität St. Gallen ist eine wertvolle Hilfe, die gegenwärtige „Migrationswelle von präzedenzlosem Umfang“ nach Europa zu verstehen. Das Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie (iDAF) hat kürzlich im Newsletter „Buch des Monats Februar 2017“ auf Sieferles Buch aufmerksam gemacht. Folgende Passagen aus dem 1. Kapitel des Buches sind nach dem Newsletter zitiert.

„Die Bevölkerung Europas wird (…) zwischen heute und 2050 um 31 Millionen schrumpfen. Im Jahr 2100 wird der Anteil der europäischen Bevölkerung an der Weltbevölkerung nur noch 5,7 %betragen. In Afrika dagegen wird sich die Bevölkerung bis 2050 verdoppeln, und dieses Wachstum wird sich bis Ende des Jahrhunderts wiederholen. (…) Ein Viertel der Bevölkerung Europas ist heute älter als 60, während dies in Afrika nur auf 5 % zutrifft. 41 % der Afrikaner sind jünger als 15 Jahre. Die muslimische Bevölkerung Nordafrikas wird in den nächsten 35 Jahren um 130 Millionen wachsen. Allein in Ägypten wird der Zuwachs 60 Millionen betragen, bei einer Gesamtbevölkerung von 151 Millionen im Jahr 2050.“

Migrationsgründe

„Der wirkliche Grund für die Migration ist (…) nicht etwa die Armut in den Herkunftsgebieten, sondern es verhält sich genau umgekehrt. Da die Differenz im Lebensstandard zwischen den Regionen der Welt seit 1990 abgenommen hat, bedeutet dies, dass immer mehr Menschen in die Lage versetzt werden, sich zu informieren und eine Entscheidung für die Migration zu treffen, deren Kosten tragbar werden. Es ist also die Zunahme des relativen Wohlstands, die in den letzten Jahren eine Massenmigration eingeleitet hat. Zuvor waren es eher die Angehörigen der (gut ausgebildeten) Eliten, die in die Industrieländer migriert sind, jetzt ist es tendenziell jeder, der sich ein Mobiltelefon leisten kann.“

„Die Kommunikations- und Reisekosten sind stark gefallen, so dass für immer mehr Menschen die Migration in Frage kommt. (…) Zugleich findet in den Herkunftsländern eine ökonomische Entwicklung statt, die mit starken Erwartungen verbunden ist. Solange die Menschen in den überkommenen agrargesellschaftlichen Umständen leben, sind sie zwar arm, doch befinden sie sich in einem gewissen Gleichgewicht der Erwartung. Die Armut gehört gewissermassen zum Weltzustand, an ihr kann eigentlich nicht gerüttelt werden. Zwar gibt es enorme Unterschiede zwischen arm und reich, doch befinden sich diese in unterschiedlichen sozialen Kategorien. Der arme Bauer vergleicht sich vielleicht mit seinem Nachbarn, nicht aber mit dem Fürsten. Diese gleichgewichtige Situation ändert sich durch die Industrialisierung. Jetzt gibt es neuartige Gewinner und Verlierer, und es baut sich ein Erwartungsdruck auf, der umso höher gespannt ist, je rascher die Wohlstandssteigerung stattfindet. (…) Die Unzufriedenheit steigt also in dem Masse, wie der Wohlstand zunimmt und Menschen oder Länder ins Visier geraten, deren Wohlstand höher ist als der eigene.“

„Wenn man diesen Hintergrund ernst nimmt, wird auch deutlich, wie problematisch die häufig beschworene Lösung ist, die ‘Fluchtursachen’ in den Herkunftsländern zu beheben. Wenn eine Methode dazu die Zahlung von Entwicklungshilfe ist, kann diese die betroffenen Gesellschaften destabilisieren, neue Erwartungen schaffen und enttäuschen, und schliesslich Konfliktgründe erzeugen. Solange ein Wohlstandsgefälle zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern besteht, wird eine Steigerung des Lebensstandards in den Entwicklungsländern den Migrationsdruck nicht etwa mindern, sondern vergrössern.“

Und die Folgen?

Migranten streben also danach, „in eine Weltregion zu wandern, die ihnen grössere Chancen bietet als ihre Heimat.“ Doch wird es, wie Sieferle weiter fragt, den Migranten gelingen, eine Verbesserung ihrer Lage zu erreichen?

„In Europa werden sie nun die Erfahrung machen, dass vielleicht ihre materielle Situation besser wird, dies aber mit einem sozialen Abstieg zu bezahlen ist (Die Migranten sind ja in der Regel nicht die Ärmsten der Armen, sondern sie gehören eher gehobenen Schichten an). Sie müssen sich ganz hintenanstellen, und in der Regel besitzen sie keine Qualifikation, die es ihnen ermöglichte, sozial aufzusteigen. Der Erwerb einer solchen Qualifikation ist jedoch ein langer, beschwerlicher Weg, und es fragt sich, ob er innerhalb einer Generation zurückgelegt werden kann. Die Immigranten befinden sich damit in einer paradoxen Situation: Ihre materielle Lage hat sich verbessert, ihre soziale Position hat sich dagegen verschlechtert.“

Und wie geht man mit so einer Situation um? „Was macht ein vitaler, unternehmerischer junger Mann, der keine Qualifikation besitzt, in der Zielgesellschaft eine anerkannte soziale Position zu erringen? Er wird versuchen, dies auf anderen Wegen zu erreichen, etwa durch Integration in eine tribale Parallelgesellschaft, vielleicht durch illegale Aktivitäten wie Drogenhandel, vielleicht auch durch ideologische Radikalisierung, die den Hass auf das Versagen bündelt und in politische Aktivitäten (bis hin zum Terrorismus) umsetzt. Es wundert daher wenig, wenn nach einer gewissen Zeit der Ernüchterung Hass und Radikalisierung auftreten. Die Erwartungen sind wiederholt enttäuscht worden, und die Reaktion darauf besteht im Protest in verschiedenen Varianten.“