Der technologische Fortschritt hat viele Bereiche unseres Lebens rasant verändert. Vor allem die Digitalisierung bestimmt unseren Lebensalltag immer mehr. Die Wirtschaft und viele Bildungspolitiker fordern daher, die Schule dürfe diesen Modernisierungsschritt nicht verpassen. Wie lernen Schüler, mit der Informationsflut zurechtzukommen und kritisch zu denken? Was hilft ihnen später, Aufgaben in der Arbeitswelt in Eigenverantwortung zu übernehmen und als mündige Bürger unsere demokratische Gesellschaft mitzugestalten? Alles Fragen, die anlässlich einer Veranstaltung „Welche Schule brauchen wir?“ am 29. November 2023 in der Fachhochschule St. Gallen beleuchtet wurden.
Von Ralph Studer
Unter dem Patronat der Vereinigung Ostschweizer Kinderärzte und des Ostschweizer Kinderspitals findet seit einigen Jahren eine Vortragsreihe zu „Pädiatrie, Schule & Gesellschaft“ statt. Als Referenten traten dieses Mal Prof. Dr. phil. Horst Biedermann, Rektor der Pädagogischen Hochschule St. Gallen (PH St. Gallen), und Prof. Dr. phil. Carl Bossard, ehemaliger Rektor der Pädagogischen Hochschule Zug (PH Zug), auf.
Von VUCA-Konzept zum BANI-Modell
Globalisierung, Wertewandel, Werteverlust und der Wandel der Religionen bezeichnete Biedermann zu Beginn seines Referats als zentrale Aspekte der gegenwärtigen Entwicklung. Dazu kämen Herausforderungen durch Digitalisierung, beruflicher Strukturwandel, familiäre Veränderungen und demographische Entwicklungen. Biedermann wagte auch einen Blick in die Zukunft. Springen die Menschen von Job zu Job? Haben sie mehr Eigenverantwortung und weniger staatliche Absicherung? Bestehen Familien nur noch als Wahlverwandtschaften bzw. Lebensabschnittsfamilien? Die Gesellschaft und Wirtschaft entwickle sich aktuell vom sog. „VUCA-Konzept“ (volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig) hin zum BANI-Modell (brüchig, ängstlich, nicht linear und unverständlich), so Biedermann.
Fähigkeiten für den Erfolg von morgen
Der Rektor der PH St. Gallen ging auch der Frage nach, was in Zukunft „erfolgreich sein“ bedeute und woran künftig schulischer, beruflicher und gesellschaftlicher Erfolg gemessen werde. Schulnoten allein seien wenig ausschlaggebend, um Vorhersagen bezüglich Berufsleistungen und Berufsbiographien zu treffen. Diese müssten unbedingt durch Kreativität, Ausdauer, Risikobereitschaft und soziale Verantwortung ergänzt werden. Für eine zufriedene, verantwortungsvolle und erfolgreiche Bewältigung des Erwachsenenlebens brauche es Kulturteilhabe wie Verkehrssprache und mathematisches Wissen, Eigenständigkeit und Beweglichkeit im Denken, Handeln und Urteilen. Dazu komme u.a. auch Neugierde, Risikobereitschaft, Empathie- und Teamfähigkeit und unternehmerische Initiative. Auch auf die Grundprinzipien und Handlungsoptionen der Schule von morgen ging Biedermann näher ein. Seiner Ansicht gehörten dazu u.a. die Freude an der Schule, hohe Leistungen, aktives Engagement im Lernen und die Lehrperson als Coach oder Mentor. Wichtig sei es, die Digitalisierung kreativ zu nutzen, Demokratie und Gerechtigkeit zu leben und der Lehrperson wieder mehr Zeit für das Kerngeschäft zu ermöglichen, so Biedermann.
Die drei grossen G
Bossard setzte in seinem Referat deutlich andere Schwerpunkte als Biedermann und fand andere Lösungsvorschläge für die gegenwärtigen Herausforderungen der Schule. Im Lernen Sinn zu finden, das eigene Können zu zeigen und dazuzugehören, begann der ehemalige Rektor der PH Zug, seien für Schüler zentrale Aspekte. Elementar seien auch eine positive Lernatmosphäre und engagierte Lehrer mit Leidenschaft für die Welt, welche die pädagogische Freiheit und Verantwortung für das Lernen der Kinder übernehmen. Im Kern des staatlichen Bildungsauftrags stünde der pädagogische Dreiklang von Kopf-Herz-Hand mit den drei grossen G: Grundwissen, Grundhaltungen und Grundfertigkeiten.
Dabei bestehe ein enger Zusammenhang zwischen der Freiheit des Lehrers, seinem pädagogischen Kernauftrag nachzukommen, und seiner Berufszufriedenheit. Durch die ständig wachsenden Vorschriften und schriftlichen Vorgaben, wie z.B. mehrseitige Kriterienraster für Elterngespräche, reduziere sich die Freude am Beruf immens. Gute Pädagogik und Bürokratie, so Bossard deutlich, passten nicht zusammen.
Von Bürokratie befreien
Der ehemalige Rektor der PH Zug äusserte klar, woran die aktuelle Bildungsentwicklung leidet. Die Fächerfülle steige, die Regelungsdichte nehme zu, die Vorschriften intensivierten sich, die Strukturen würden enger, die Schuladministration wachse – und damit auch die Zahl der Akteure. Das schwäche letztlich den pädagogischen und menschlichen Spielraum des Lehrers. Deshalb sei es unbedingt nötig, inhaltlich zu reduzieren, strukturell zu vereinfachen und von unnötiger Bürokratie zu befreien. Das Kerngeschäft des Lehrers müsse wieder im Zentrum stehen.
Grundlagen lernen
Bildungsinhalte ohne Verfalldatum seien gefragt, führte Bossard weiter aus. Rechnen sowie Schreiben, Lesen und Sprechen in der Primärsprache müssten zuerst erlernt werden. Zwei Fremdsprachen in der Primarschule zu lehren sei der falsche Weg. Bedenklich sei auch, dass das Fach Geschichte zum „Rumpffach“ verkommen sei. Es brauche ein historisches Bewusstsein und das Wissen um die eigene Herkunft, um die Weichen für die Zukunft zu stellen und verwurzelt zu sein. Das In-Beziehung-Setzen von Fremdem mit der eigenen Vergangenheit ermögliche eine zukunftsfähige Kooperation, so Bossard. Zudem verlören wir auch die Fähigkeit zur Gegenwärtigkeit, wenn das Leben zunehmend virtuell erlebt würde und nur noch von einer „vermittelten Gegenwart“ gesprochen werden könne.
Am Schüler orientieren
Bildung sei nur dann aktuell und schülergerecht, hob der ehemaliger Rektor der PH Zug hervor, wenn sie sich an den anthropologischen Konstanten und der besagten Dreiheit von Kopf-Herz-Hand orientiere. Es gehöre zum Wesen von Schule und Unterricht, sich an den menschlichen Bedürfnissen und der Entwicklung der Kinder auszurichten und nicht am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Daraus folge auch, dem Druck der IT-Branche zu widerstehen und vernünftig zu digitalisieren, ohne die Kraft des Analogen zu vergessen. „Denn“, so Bossard, „die entwicklungspsychologischen Komponenten ändern sich nicht!“ Bildung brauche Beziehung und sei an Menschen gebunden.
Er zeigte auch auf, dass die heutige Schule im Spannungsfeld von Innovation und Tradition steht. Der Angst vor dem Fertigen mit dem permanenten Umbau, so Bossard, stehe der Mut zu pädagogischen Konstanten gegenüber. Obwohl die pädagogische Empirie klar zeige, dass Lernen auf Wiederholung basiere, würde heute die Menge an Inhalten maximiert und das Üben und die Anwendung des Gelernten reduziert.
Die Schriftsteller Bichsel und Bärfuss sagen es deutlich
Bossard zeigte einen kurzen Videoausschnitt von Primarschülern, die in wenigen Sätzen vor der Kamera sagten, was sie sich von ihrer neuen Lehrerin wünschen. Sie soll lieb sein, Geburtstage feiern, mit ihnen singen und musizieren, ihnen helfen und auch sagen, dass sie ruhig sein sollen. In diesem Zusammenhang ging Bossard auch auf die berührenden Worte des Schriftstellers Peter Bichsel über seinen Lehrer ein. Bichsel habe seinen Lehrer geliebt, weil er ihn zum selbst Denken angeregt und selbst unter seinen vielen Rechtschreibfehlern erkannt habe, „dass ich gute Aufsätze schreibe“. Und weil der Lehrer ihn von sich selbst überzeugt habe. Zutrauen und ermutigen, an sich selbst zu glauben, das sei die Stärke dieses Lehrers gewesen.
Neben Bichsel bezieht sich der ehemalige Rektor der PH Zug auf Lukas Bärfuss. „Was ich nötig hatte, das waren Lehrer“, zitiert Bossard den Schweizer Schriftsteller. Er, Bärfuss, wisse nicht, was aus ihm geworden wäre, wenn seine Lehrer nicht ihre Leidenschaft, Angst und Staunen mit ihm geteilt hätten.
Worauf es letztlich ankommt
In seinen Ausführungen verdeutlichte Bossard, wie wichtig die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler als Basis des Dialogs, der Lehrens und Lernens ist. Es gehe nicht um Lehrpläne, Systeme oder Evaluation. Vielmehr gehe es um Bildung, Bindung, Zuversicht und Hoffnung als elementare Grundpfeiler einer erfolgreichen Schule und eines erfolgreichen Lernens. Schülerzentrierte und leidenschaftliche Lehrer mit einer hohen menschlichen Verantwortung für das Lernen der Kinder seien unentbehrlich.
Denn am Menschen werde der Mensch zum Menschen, so Bossard. Oder – um es mit dem ehemaligen Professor der Universität Bern, Hans Aebli, zu sagen: „Wo eine gute Lehrperson in Freiheit und Verantwortung wirkt, da wird die Welt ein bisschen besser.“