Die USA ist mit ihren Anträgen gescheitert: Eine Verschärfung der weltweit geltenden Gesundheitsvorschriften wurde Ende Mai 2022 von der Mehrheit der WHO-Mitgliedstaaten in Genf abgelehnt und somit auch ein Ausbau der Kompetenzen der WHO. Dies ist die gute Nachricht, eine schlechte gibt es leider auch.
Kommentar des Monats von Ralph Studer
Vom 22. bis 28. Mai 2022 tagten in Genf die Gesundheitsminister zur 75. Weltgesundheits-versammlung (WHA), dem Entscheidungsgremium der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Angelegenheiten, in denen der WHO-Generaldirektor nicht selbst entscheiden darf. Die WHA ist das Forum, das die Regeln und Richtlinien für die Tätigkeit der WHO bestimmt.
An dieser Stelle sind zwei Aspekte klar auseinanderzuhalten: Während an dieser Versammlung Ende Mai 2022 über eine allfällige Änderung der internationalen Gesundheitsregulierungen verhandelt wurde, laufen parallel dazu die Verhandlungen zwischen der WHO, EU und ihren Mitgliedstaaten über einen globalen Pandemievertrag, dessen finaler Entwurf im Mai 2024 vorliegen soll. Die nächste Verhandlung zum Pandemievertrag findet voraussichtlich im August 2022 statt.
US-Anträge als massive Einschränkungen der staatlichen Souveränität
In den Medien wurde kaum über diese Versammlung in Genf von Ende Mai 2022 berichtet, obwohl die Anträge der USA auf eine massgebliche Transformation der bisherigen WHO abzielte mit gravierenden Folgen auch für die Schweiz. Statt in erster Linie zu beraten und zu unterstützen, sollte die WHO mehr und mehr auch Interventionsmöglichkeiten sogar gegen den Willen der betroffenen Staaten erhalten.
Die Stossrichtung bei der soeben beendeten Genfer Konferenz als auch beim globalen Pandemievertrag ist klar: Kompetenz- und Machtzuwachs bei der WHO zu Lasten der Souveränität der WHO-Mitgliedstaaten wie der Schweiz. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, einzelne dieser im Vorfeld zur Versammlung eingereichten Anträge der USA unter die Lupe zu nehmen, um sich der US-Absichten bewusst zu werden:
Artikel 9 zur Nutzung anderer Informationsquellen regelt, dass die WHO auch auf Basis von Informationen von Dritten über einen mutmasslichen Vorfall in einem Land, Massnahmen ergreifen darf oder muss, wie etwa die Aussprache einer Warnung. Hier schlug die USA vor, die Anforderung zu streichen, wonach die WHO ein betroffenes Land konsultieren muss, bevor sie auf Basis von Informationen anderer Massnahmen in Bezug auf dieses Land ergreift.
Artikel 10 zur Verifizierung regelt die Mitwirkung betroffener Regierungen an der Verifizierung von Vorfällen, die von Dritten gemeldet wurden. Hier sollte die WHO künftig sofort, innerhalb von 24 Stunden nach Meldung eines Vorfalls durch Dritte, das betroffene Mitgliedsland auffordern, den Vorfall zu verifizieren, und gleichzeitig Unterstützung bei der Beurteilung des Vorfalls anbieten. Für die Verifizierung und für die Annahme oder Ablehnung des Hilfsangebots sowie die Übersendung aller verfügbaren Informationen zu dem Vorfall hat die betroffene Regierung wiederum nur einen Tag Zeit. Lehnt die Regierung die von der WHO vorgesehene Hilfe ab, sollte – so der Vorschlag der USA – die WHO sofort alle Mitgliedsregierungen über den Vorfall und die Ablehnung informieren und gleichzeitig ihr Unterstützungsangebot erneuern müssen. Bisher war das eine Kann-Vorschrift. Die bisherige Vorschrift, vorher die Regierung des betroffenen Landes anzuhören, war zur Streichung vorgesehen.
Artikel 12 zur Feststellung von Gesundheitsnotlagen kannte bisher nur Gesundheitsnotlagen von internationaler Bedeutung (public health emergency of international concern). Hier war beabsichtigt, „Notlagen von regionalem Interesse“ und die „Mittleren Gesundheitswarnungen“ (Intermediate Health Alerts) zusätzlich aufzunehmen. Bereits wenn der WHO-Generalsekretär eine potenzielle Gesundheitsnotlage internationalen Ausmasses vermutet, sollte er alle Mitgliedsregierungen informieren müssen. Das wäre neu gewesen. Bisher musste er stattdessen die betroffene Regierung konsultieren (im Antrag der USA stand nur noch „versuchen“). Auf eine Antwort bräuchte er künftig nicht zu warten.
Bisher musste er 48 Stunden lang versuchen, das Einverständnis der Regierung zur Notlagenfeststellung zu bekommen. Gelingt das nicht, musste er bisher eine Expertenkommission mit dem Fall befassen und seine Entscheidung auf Grundlage von deren Stellungnahme treffen. Künftig soll er diese Stellungnahme nur noch einholen, nachdem er seine Entscheidung schon getroffen hat. Bei der neu eingefügten Möglichkeit der USA der Ausrufung einer mittleren Gesundheitswarnung wegen eines Vorfalls sollte der Generalsekretär ausdrücklich völlig frei sein. Die Warnung ergeht dann an alle Mitgliedsregierungen.
Ausserdem sollte jeder Regionaldirektor der WHO aus freiem Ermessen feststellen dürfen, dass ein Vorfall einen regionalen Gesundheitsnotstand darstellt, und die Regierungen der Region entsprechend informieren. Das sollte er tun können, bevor oder nachdem der WHO-Generaldirektor informiert wurde und seinerseits alle Mitgliedsregierungen informiert. Vor der Ausrufung dieser neu eingefügten Arten von Gesundheitsnotständen ist keinerlei Konsultation, ja nicht einmal vorherige Information der davon möglicherweise massiv geschädigten Länder vorgesehen oder auch nur empfohlen.
In Artikel 13 zu den Gesundheitsmassnahmen wird aus einer Zusammenarbeit der WHO mit der betroffenen Regierung ein Hilfsangebot. Dieses wird automatisch, weil der Zusatz „auf Anforderung der Regierung“ gestrichen wird (US-Antrag). Wenn sie diese Hilfsangebot nicht innerhalb von zwei Tagen annimmt, muss sie das allen anderen WHO-Mitgliedsregierungen gegenüber begründen.
Auch die „Mobilisierung internationaler Unterstützung“ und eine Beurteilung der Angemessenheit der nationalen Gegenmassnahmen gehören zu den Hilfsangeboten, welche die WHO künftig geben muss und die nur mit triftiger Begründung abgelehnt werden dürfen. Die Norm wird also, dass die WHO und andere Regierungen (z.B. USA) bei den Gesundheitsmassnahmen in einem Land von Anfang an mitmischen dürfen.
In einem neuen Kapitel IV zum „Compliance Committee“ war vorgesehen, wie dieses neu zu schaffende „Compliance Committee“ die Einhaltung der WHO-Regeln durch die Regierungen der Mitgliedstaaten beurteilen und bei der Durchsetzung helfen sollte. Es soll aus sechs Regierungsvertretern aus jeder WHO-Region bestehen und einen jährlichen Bericht abgeben. Entscheiden soll das Komitee nach Möglichkeit im Konsens. Fehlt der Konsens, hat jedes Mitglied die Möglichkeit, eine Minderheitsmeinung in den Bericht zu schreiben.
Es kann also jede Regierung jede andere beschuldigen, die WHO-Regeln zu brechen, und das öffentlich machen, wenn eine Regierung Empfehlungen der WHO oder des Komitees nicht umsetzt oder wenn sie sich weigert, Faktenfindungsteams des Komitees in ihrem Land arbeiten zu lassen.
Afrikanische Staaten leisteten massiven Widerstand
Auf den ersten Blick dürfte man erwarten, dass traditionell demokratische Länder diese Anträge der US-Regierung ablehnten, weil die Mitgliedstaaten beachtliche Kompetenzen an die WHO verloren hätten – die über keinerlei demokratische Legitimation verfügt. Im Gegenteil. Letztlich war es der massive Widerstand der afrikanischen Länder, der massgeblich für die Ablehnung der meisten US-Anträge verantwortlich war, während Länder wie die Schweiz die US-Anträge unterstützten. Somit konnten die drohenden Gefahren für die Schweiz und ihre nationale Souveränität gegenüber der WHO (vorerst) abgewendet werden. Es ist vom freiheitlich-demokratischen Grundgedanken her unverständlich, dass ausgerechnet die Schweiz diese Anträge guthiess, die zu einem massiven Zentralismus und Kompetenzanhäufung bei der WHO geführt hätten, notabene ohne Kontrollmechanismen gegenüber der WHO.
Ein weiterer Aspekt sollte nicht vernachlässigt werden: die einseitige, falls überhaupt vorhandene, Berichterstattung der Medien, welche die Länder Afrikas einseitig für ihre Ablehnung kritisieren, da sie – so der Vorwurf – konkrete Reformen zur Stärkung der Regeln der UN-Gesundheitsorganisation als zentraler Bestandteil einer globalen Gesundheitspolitik verhinderten.
Eine öffentliche Diskussion ist überfällig
Trotz dieser Tragweite für die WHO-Mitgliedstaaten und deren Bevölkerung, die von allfälligen Entscheidungen und Massnahmen der WHO mitbetroffen sind, findet keine öffentliche Diskussion statt. Dies ist umso fataler, da die USA nicht klein beigeben werden. Loyce Pace, stellvertretende US-Staatssekretärin für globale Angelegenheiten im Ministerium für Gesundheit und Soziale Dienste, sagte klar: „Wenn es [der Konsens] diese Woche nicht passiert, werden wir nicht aufhören, wir werden weiter daran arbeiten“.
Aufgrund dieser Ausgangslage steht eine Forderung klar im Raum: Es ist höchste Zeit, eine öffentliche Diskussion in der Schweiz zu lancieren, um die Bevölkerung über die laufenden Vertragsverhandlungen bezüglich der internationalen Gesundheitsvorschriften und des globalen Pandemievertrags aufzuklären, zu beteiligen und die Mitspracherechte der Bevölkerung ernst zu nehmen. Dies sollte an sich in einer gelebten Demokratie selbstverständlich sein.