Dürfen zehnjährige Schüler im Kanton Zürich angeleitet werden, über ihre Lieblingsstellung beim Sex zu sprechen? Diese heikle Frage stellen Kantonsräte von EDU, EVP und SVP in einer Anfrage zum Lehrmittel „Sexualpädagogik der Vielfalt“ (2008), die am 8. Juni 2015 eingereicht wurde. Das Praxisbuch wird seit 2012 vom Volksschulamt Zürich empfohlen. Während in Deutschland ein Aufstand gegen das Lehrmittel tobt, animieren Schweizer Sexualpädagogen Schüler bislang unbehelligt dazu, „galaktische Sex-Spielzeuge zu entwerfen und erotische Musikstücke zu inszenieren.“
Von Dominik Lusser
Ein Blick ins Lehrmittel, das auch in Baselstadt und Bern eingesetzt wird, zeigt, was derzeit in Deutschland besorgte Eltern, aber auch Pädagogen, Psychologen und Sexualwissenschaftler in Aufruhr versetzt. In der Übung „Galaktischer Sex“ sollen 15-jährige Schüler alle ihnen bekannten Bezeichnungen für sexuelle Praktiken nennen. Die Autoren des Lehrmittels schreiben: „Die Jugendlichen werden ermutigt, auch scheinbar Ekliges, Perverses und Verbotenes zu nennen.“ In Kleingruppen erfinden sie sodann galaktische Sexpraktiken, die auf der Erde unbekannt sind. „Sie überlegen, wer welchen Sex wann, wie, mit wem, unter Verwendung welcher Hilfsmittel hat. Die Kleingruppen werden mit verschiedenen Gestaltungsmaterialien ausgestattet und können sich selbst verkleiden, galaktisches Sex-Spielzeug entwerfen, erotische Musikstücke inszenieren oder …“
Anleitung zum Kindsmissbrauch?
Beim Massage-Spiel „Gänsehaut“ – für Kinder ab zehn Jahren – genügt dünne Kleidung, damit der unterschiedliche Druck und die verschiedenen Streichrichtungen auch erspürt werden können. Dabei dürfen verschiedene Massagetechniken angewendet werden, auch „vorgezeigt durch die Leitung”. Von aussen sollte der Raum nicht einsehbar sein, empfehlen die Autoren. Zu den Klangübungen gehören auch „lautes Stöhnen” und „dirty talk”, für die lustigen Gipsabdrücke einzelner Körperteile wird viel Vaseline benötigt. Zur Übung „Sexualität während der Menstruation“ für ältere Jugendliche sollen „unterschiedliche Paar-Konstellationen in die Rollenspiele eingebaut werden“. In der 2. Auflage von 2014 ist sogar von „Gruppensex“ als möglicher Konstellation die Rede. Doch schon die erste Auflage nennt die Frage „Wo könnte der Penis sonst noch stecken?“ als Kontrolle für genügende Berücksichtigung sexueller „Vielfalt“.
Als Methode möchten die Autoren „Verwirrung” und die „Veruneindeutigung” angewendet wissen. Um vielfältige Lebensformen besser wahrzunehmen, sollen14 Jahre alte Jugendliche für die Bewohner eines imaginären Mietshauses Gegenstände ersteigern, die etwa zum Alltags- und Liebesleben eines lesbischen Paars mit Kindern, einer alleinerziehenden Mutter oder einer Spätaussiedlerin aus Kasachstan passen. Vorgeschlagen werden u.a. Handy, Saunakarte, Dildo, Handschellen, Lack und Leder, Aktfotos, das Kamasutra und Vaginalkugeln.
Wann wird’s Zürcher Eltern zu bunt?
Die Hamburger Schulbehörde hat im Oktober 2014 „Sexualpädagogik der Vielfalt“ nach heftigen Protesten von Eltern, Politikern und Fachleuten zurückgezogen. Etliche Artikel und Kommentare in renommierten deutschen Medien von links bis rechts, darunter die FAZ und der Spiegel, kritisierten das Lehrmittel in den letzten Monaten scharf. Vorwiegend deutsche und österreischische Experten aus den Bereichen Medizin, Psychologie und Pädagogik – unter ihnen auch Jakob Pastötter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung – werben für solide Prinzipien in der Sexualpädagogik (www.prinzipien-sexualpaedagogik.org). Damit möchten sie dem neusten Produkt der auf den pädophilen Helmut Kentler zurückgehenden neoemanzipatorischen Sexualpädagogik eine fundierte Alternative entgegensetzen. Denn Jugendliche brauchen keine sexuelle Animation in der Schule, sondern Hilfestellung, ihre Sexualität in ihre langfristigen Lebensziele wie stabile, treue Beziehung und Familie zu integrieren.
Schulunterricht unterliegt auch in der Schweiz dem Indoktrinationsverbot, wie der Bericht „Politische Bildung in der Schweiz“ (Uni Freiburg zuhanden der D-EDK, 1999) festhält. Ein Grundsatz, den sogar das umstrittene, inzwischen geschlossene Luzerner „Kompetenzzentrum Sexualpädagogik und Schule“ explizit auch auf die Sexualpädagogik angewendet wissen wollte. Doch zwischen Theorie und Praxis klaffen oft Abgründe: „Sexualpädagogik der Vielfalt“ und die zugrundeliegenden „WHO-Standards für Sexualaufklärung in Europa“ verstossen jedenfalls klar gegen dieses Verbot: Sie vertreten eine reine Verhandlungsmoral in Sachen Sexualität, ohne übergeordnete sittliche Normen. Zudem haben sie die umstrittene Gendertheorie zur Grundlage. Diese radikale Kulturtheorie relativiert laut dem deutschen Psychiater Christian Spaemann die geschlechtliche und sexuelle Identität des Menschen in höchst fragwürdigem Ausmass und leitet daraus eine „sexuelle Vielfalt“ als neues gesellschaftliches Leitbild ab.
Pure Lustoptimierung
Für die Sexualpädagogik bleibt dann nur noch die sexuelle Lust als gemeinsamer Nenner dieser beliebigen Lebensformen übrig. „Deren Vielfalt soll“, wie Spaemann warnt, „den Kindern ohne Bezug zur Verantwortung für verbindliche Beziehungen und Lebensziele oder eine Integration der Sexualität in die Gesamtpersönlichkeit, zu der immer auch die Fähigkeit zum Verzicht gehört, unterrichtet werden.“ Doch Relativismus bedeutet nicht – wie es vielleicht scheinen mag – Neutralität, sondern ist selbst eine sehr fragwürdige Weltanschauung, die den objektiven Wert der Sexualität verdeckt oder gar negiert. Neutralität muss, wie auch der Bericht „Politische Bildung in der Schweiz“ festhält, heute vielmehr als Kontroversität ausgelegt werden. Ein breites Wertewissen hilft dem Schüler, „aus ethischer Verantwortung heraus“ politisch solidarisch zu handeln, selbst „wenn Widerstände zu überwinden und persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen sind“, sowie „mögliche Zukunftsfolgen politischer Entscheidungen zu beurteilen“.
Kann es aber sein, dass während die politische Bildung dem Aufbau der Verantwortung des Einzelnen für die gesellschaftliche Ordnung dient, die Sexualkunde dazu missbraucht werden darf, die Gesellschaftsordnung durch die subversive Kraft der Sexualität zu untergraben? Gefragt wäre vielmehr auch hier anstatt der Animation zu frühem, „vielfältigem“ Sex eine gewisse Distanz zum behandelten Gegenstand sowie die Vermittlung eines breiten Wertewissens, das es Schülern ermöglicht eine eigene Meinung zu bilden. Wo aber aus Altersgründen eine Diskussion gar noch nicht möglich ist, ist mit Spaemann zu fragen, inwieweit die Schule überhaupt einen Auftrag haben kann, Inhalte zu vermitteln, die über eine an der Fruchtbarkeit orientierte Sexualaufklärung hinausgehen.
„Schlicht absurd“?
Die Zürcher Regierung wird nun folgende Fragen beantworten müssen: Welche Experten haben dieses Lehrmittel für den Gebrauch im Schulunterricht in der Zürcher Volksschule evaluiert? Welches waren die Gründe dafür? Wo wird dieses Lehrmittel eingesetzt und welche Erfahrungen hat man damit gemacht? Erachtet der Regierungsrat dieses Buch als ein adäquates Lehrmittel für den verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema Sexualität?
Eine Antwort dürfte der Züricher Regierung nicht gerade leicht fallen. Geht es nämlich um nichts weniger als um eine drastische Korrektur des Kurses, auf dem sie bei der Sexualpädagogik ohne demokratische Legitimation seit Jahren unterwegs ist; im krassen Gegensatz zu den Prinzipien, die sich in der politischen Bildung längst als Konsens etabliert haben. Unter dem ständigen Druck aus der Bevölkerung bereits zurückgekrebst ist derweil die rot-grüne Regierung von Baden-Württemberg. Nach mittlerweile zweijährigen Protesten gegen den „Bildungsplan 2015“, der „sexuelle Vielfalt“ zum Querschnittthema in allen Schulfächern machen will, distanziert sich nun der zuständige SPD-Kultusminister Andreas Stoch – ob aus Einsicht, das sei dahingestellt – von „Sexualpädagogik der Vielfalt“: Zu denken, dieses Buch komme in den Schulen zur Anwendung, sei „schlicht absurd“. Nun wird sich zeigen, wie weit die Vorliebe der Zürcher Regierung fürs Absurde geht.