Vor 150 Jahren haben die Schweizer eine neue Bundesverfassung (BV) angenommen und das politische System der Schweiz verändert: Die BV von 1874 führte das fakultative Referendum ein. Damit wurde die Schweiz zum „Sonderfall“. Angesichts des schweren Stands, den die Demokratie heute international hat, ist es Zeit, sich vertiefter mit der Demokratie als Kern der Schweizer Identität auseinanderzusetzen.
Von Ralph Studer
„Mit Besorgnis registriere ich seit Jahren, wie die Demokratie international auf dem Rückzug ist“, äusserte Alt-Botschafter Paul Widmer vor einem Jahr. Davon konnte bei der Einführung des fakultativen Referendums in der Schweiz 1874 keine Rede sein. Im Gegenteil: Mit dem damaligen Ausbau der Volksrechte wurde vor 150 Jahren ein Meilenstein der Demokratiegeschichte gesetzt. „Das Referendum änderte alles: die Konkordanz, die Gesetzgebung, die den frühzeitigen Einbezug unterschiedlicher Interessen erfordert“, betont der Historiker Tobias Straumann.
Damit war ein Anfang gemacht. Bereits 1891 folgte die Einführung der Volksinitiative auf Bundesebene. Andere Staaten wollten sich nicht auf diesen starken Ausbau der direkten Demokratie einlassen. Die Schweiz blieb bei der direkten Demokratie ein Sonderfall. Und dies war ein Segen für unser Land.
Grenzen von Politik und Volk
Die politische Kultur der Schweiz lebt gerade davon, dass die Macht der Parteien und Verbände aufgebrochen und die Medienmacht begrenzt wird. So erst können Freiräume für Denk- und konkrete Veränderungsprozesse entstehen. Dieses spezifisch Schweizerische ist massgeblich der direkten Demokratie zu verdanken. Volksrechte bilden eine Art Grenze. Sie können unangenehm und störend für die politischen Entscheidungsträger sein, doch war die Schweiz grundsätzlich seit jeher von unten geprägt und nicht von oben diktiert. Dies ist auch richtig, da die politischen Entscheidungen samt ihren Folgen die Bürger ganz direkt treffen können.
Volksrechte sorgen bei den Bürgern für bessere Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen und geben ihnen zugleich die Möglichkeit, in den politischen Meinungsprozess einzugreifen. Durch die Initiative können sie reformieren, durch das Referendum bremsen – Politik vom Volk für das Volk.
Doch hat das Volk nicht grenzenlose Macht, ebenso wie es auch keine absolute Freiheit des Einzelnen gibt. Der Volkswille untersteht selbst einer Obrigkeit und ist an Gottes Gebote gebunden. Darin liegen Demut und die Erkenntnis, dass wir Menschen fehlbar sind und Orientierung brauchen. Selbst der sich als Atheist bezeichnende deutsche Linken-Politiker Gregor Gysi erkannte das Problem einer orientierungslosen Gesellschaft: „Ich glaube zwar nicht an Gott, aber ich möchte auch keine gottlose Gesellschaft. Ich fürchte sie sogar.“
Langsamkeit als Erfolgsrezept
Die direkte Demokratie ist in der Schweiz tief verankert und bildet das Lebenselixier unseres Landes. Sie reicht – mit Unterbrüchen – bis zur Gründung der Eidgenossenschaft zurück und bildet einen Kern der Schweizer Identität. Dabei nehmen wir auch in Kauf, dass Demokratie bei uns etwas langsamer geht, was Kritiker der Schweiz oft vorwerfen.
Eine Auswirkung ist ein langsamer Gesetzgebungsprozess, in den die relevanten Organisationen, Verbände und Parteien eingebunden werden. Vom ersten Moment an muss sich der Gesetzgeber überlegen, wie er ein Gesetz ausformuliert. Das Wissen um ein mögliches Referendum bremst staatlichen Aktivismus und bewahrt besser davor, nicht jeder Ideologie und jedem Trend zu folgen. „Diese Langsamkeit“, so der Politologe Leonhard Neidhart, „zählt ohne Zweifel auch zum Erfolg des ‚Phänomens Schweiz‘.“ Der Gewinn von langsamen Prozessen liegt vor allem in einer höheren Legitimität, in mehr Stabilität und grösserer Glaubwürdigkeit des politischen Systems. Dies macht die Schweiz gerade auch für Unternehmen attraktiv.
Starker Wettbewerbsvorteil
Statt auf Reformgeschwindigkeit setzt die Schweiz auf Stabilität. „Stabilität schafft jene Grundlagen“, so Widmer, „auf denen langfristig jede Wirtschaftstätigkeit am besten gedeiht: Berechenbarkeit und daraus resultierendes Vertrauen.“ Die stabilen Schweizer Verhältnisse gelten bis anhin international als Markenzeichen und verleihen der Wirtschaft einen grossen Wettbewerbsvorteil.
Die Schweiz täte gut daran, sich dieser langfristigen Vorteile politischer Stabilität wieder vermehrt bewusst zu werden und sich an den eigenen Stärken auszurichten, wenn sie auf dem internationalen Parkett agiert. Dazu gehört auch, eine eigene Vision und Strategie zu entwickeln und sich nicht vom Strom der Zeit und dem Druck des Auslands treiben zu lassen. Vielmehr ist gerade in Krisenzeiten an den bewährten Errungenschaften und Grundpfeilern der Vergangenheit wie direkter Demokratie, Föderalismus und Neutralität festzuhalten und diese wider alle Angriffe zu verteidigen.
Schutz vor zunehmender Globalisierung und Internationalisierung
Autonome Entscheidungen zu fällen, wird immer schwerer angesichts der fortschreitendenden internationalen Entwicklung. Zu Recht weist Alt-Botschafter Widmer hier auf unsere direktdemokratischen Rechte hin. Diese sind „ein geeignetes Mittel, um die durch Globalisierung verursachte Korrosion der Staatlichkeit zu bremsen und die Abgabe von staatlichen Kompetenzen an transnationale oder internationale Instanzen zu kontrollieren.“
Aktuelle Gefahren
Auf internationaler Ebene sieht sich die Schweiz einigen Herausforderungen gegenüber. Drei Gefahren seien herausgegriffen. Die anfangs Juni 2024 angenommenen Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) hätten weitreichende Folgen, wenn sie in Kraft träten: Informationskontrolle, Überwachung und Digitalisierung, einseitige Lockdown-Ausrufung durch den Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) inkl. Testzertifikat, Impfzwang, Quarantäne und Isolation, Contact Tracing und Ähnliches.
Sowohl die IGV als auch der geplante Pandemievertrag hebeln die Schweizer Verfassung aus und bedrohen alles, wofür die Schweiz steht – Souveränität, Demokratie und Menschenrechte. Der Bundesrat ist hier in der Pflicht, sein Widerspruchsrecht gemäss Art. 59 IGV unverzüglich und fristgerecht auszuüben und die Ablehnung der Änderungen der IGV zu erklären (sog. „Opting-out“). Ansonsten treten diese per 1. Juni 2025 automatisch in Kraft.
Eine zweite Gefahr stellt zunehmend der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg dar. Im Entscheid „KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz“ vom April 2024 werfen die Richter der Schweiz vor, sie verletze die Menschenrechte der Seniorinnen, weil sie nicht genug gegen die Klimaerwärmung unternommen habe. Mit diesem politisch-motivierten Urteil hat der Gerichtshof die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung überschritten und die demokratischen Entscheidungsprozesse der Schweiz missachtet. Dies ist nicht das erste Mal, dass sich Unmut über Entscheidungen aus Strassburg regt. „Es kann nicht sein“, wie die NZZ-Journalistin Katharina Fontana zu Recht schreibt, „dass Klimaaktivisten zusammen mit der Justiz die demokratische Debatte ausschalten wollen. In der Schweiz machen Parlament und Volk die Klimapolitik und nicht eine Gruppe von Richtern.“
Es ist höchste Zeit, offen und kontrovers über die Frage nach einer Kündigung der EMKR und einem Austritt aus dem Europarat zu diskutieren. Dies umso mehr, als es um viel geht: um die Souveränität, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie unseres Landes.
Die Schweiz und die EU
Eine dritte Gefahr ist die Neuauflage der Verhandlungen mit der EU. Nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen (InstA; „Rahmenabkommen“) im Jahr 2021 war die Hoffnung gross, der Bundesrat habe die Weitsicht und den Mut, die EU-Politik neu auszurichten. Statt die Schweizer Position mit einer standhaften Haltung beim Thema Souveränität und Demokratie zu stärken, akzeptiert der Bundesrat wie schon beim Rahmenabkommen die institutionellen Forderungen der EU. Die EU hält weiterhin unverändert an ihrem Fahrplan fest: Gesetzgebung, Referendumsrecht sowie die eidgenössische Gerichtsbarkeit sollen in zentralen Punkten an die EU abgetreten werden.
Ein solcher Vertragsinhalt widerspricht dem Schweizer Freiheits- und Demokratiegedanken. Bei diesem Vertrag geht es nicht in erster Linie um wirtschaftliches Kalkül, sondern um die politische Identität unseres Landes. Es geht um nicht weniger als die direktdemokratischen Rechte, die bei einer Annahme massiv beschränkt würden. Es geht um die entscheidende Frage der staatlichen Souveränität und der Freiheit der Bürger: Wer hat die letzte Entscheidungsbefugnis, das Volk oder jemand anders? Wo liegt die Letztentscheidungsgewalt, in der Schweiz oder bei der EU?
Gestärkt in die Zukunft
Die Einführung des fakultativen Referendums 1874 war für das damalige Europa „revolutionär“. Bis heute ist die Schweiz das einzige Land mit direktdemokratischen Rechten auf allen staatspolitischen Ebenen, von der Gemeinde bis zum Bund. Ohne Volksrechte wäre die Schweiz nicht, was sie ist. Dem Druck aus dem Ausland und neuen internationalen Begehrlichkeiten, die nicht dem Wohl unseres Landes dienen und mit unseren demokratischen Errungenschaften unvereinbar ist, ist zu widerstehen.
Wir müssen uns bewusst sein: Eine Schweiz ohne wirkliche Volksrechte ist nicht vorstellbar! Eine Schweiz ohne Volksrechte wäre keine Schweiz mehr!
Gerade die direkte Demokratie stellt neben den subsidiären Strukturen, dem Föderalismus und der Neutralität die Grundpfeiler der Schweiz dar, auf der unser Wohlstand aufbaut und wofür wir dankbar sind. Und dieses Fundament gilt es an die nächsten Generationen weiterzugeben. So gehen wir gestärkt in die Zukunft!