Das Anliegen von Ärzten und Pflegern, die sich bewusst für einen Heilberuf entschieden haben – nämlich Menschen zu helfen –, wird immer häufiger zur Nebensache. Stattdessen bestimmen ökonomische Interessen den Alltag in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Bestimmt jedoch die Ökonomie das Handeln im Gesundheitsbereich, widerspricht dies den ethischen Prinzipien des Heilens. Und so verliert die Medizin mehr und mehr ihre eigentliche Identität und den Menschen selbst aus dem Auge. Es braucht dringend einen Richtungswechsel.  

Von Ralph Studer

Seit 1993 wird jeweils am 11. Februar in der katholischen Kirche der „Tag der Kranken“ begangen. Dies ist ein guter Grund, um einen vertieften Blick auf das Gesundheitssystem zu werfen.

Viele Ärzte und Pflegepersonen erbringen – trotz erschwerter Bedingungen wie fehlendem Personal – eine bestmögliche medinische und pflegerische Leistung für den einzelnen Patienten. Dieses Bild wird allerdings zunehmend getrübt durch den massiven Fachkräftemangel, welcher das Gesundheitswesen vor ernsthafte Herausforderungen für die Zukunft stellt. Mit ein Grund für den Personalmangel dürften die unbefriedigenden Arbeitsbedingungen sein, die es vermehrt erschweren, sich vollumfänglich den Kranken zuzuwenden.

Das Wesentliche geht verloren

Seit Langem stellen Kritiker in Medizin und Pflege eine Abkehr von einer ganzheitlichen Sichtweise des Patienten fest. „Die Ökonomisierung des Sozialen“, so der Arzt Dr. Giovanni Maio, Professor für Medizinethik an der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität in Deutschland, „dürfte zu den schwerwiegendsten politischen und denkerischen Fehlern unserer Zeit gehören.“

Der Arztberuf und die Pflege würden nach Maio immer mehr nach ökonomischen Gesichtspunkten bewertet. Er beklagt die Umstrukturierung der Krankenhäuser in Wirtschaftsunternehmen. Diese führe dazu, „dass am Ende nur noch das geschieht, was Profit bringt, und nicht das, was hilfsbedürftige Menschen wirklich brauchen“. Das bedroht die Identität der Medizin und stellt ihre ursprünglichen Werte in Frage: Wenn die Behandlung vor allem unter dem Gesichtspunkt einer betrieblichen Investition gesehen wird, fehlt häufig die Zeit, um auf Patienten einzugehen, im Gespräch richtig zuzuhören und die Menschen umfassend zu behandeln.

Ursachen dieser Entwicklung im Gesundheitsbereich

Ärztliche Betreuung reduziere sich heute in den Köpfen der Verantwortlichen auf das „Anbieten standardisierter Behandlungsschablonen“. Man wolle die Heilberufe über bürokratische Normierung steuerbar machen. Deshalb unterwerfe man die gesamte Medizin einer „Checklisten-Rationalität, die zu Überregulierung und Bürokratisierung führt“, stellt Maio fest.

In einer solchen Welt zählt nur das, was messbar ist. Sie führt zu einer Abwertung der Heilberufe nach ökonomischen Gesichtspunkten. Es geht nicht mehr in erster Linie um die Orientierung an einem sozialen Ziel, sondern um die Maximierung der Zahl. Was gezählt werden kann, hat Relevanz. Dabei verkennt man, dass betriebswirtschaftliche Logik und medizinisches Denken nach je eigenen Prinzipien verfahren und sich entgegenstehen. Der politische Glaubenssatz, dass das Gesundheitswesen als Service public schwarze Zahlen schreiben muss, ist deshalb in Frage zu stellen.

Der verhängnisvolle Vorrang wirtschaftlicher Sichtweisen in der heutigen Medizin hat fatale Folgen. Denn dadurch droht laut Maio „der soziale Gehalt der ärztlichen und pflegerischen Tätigkeit aus dem Bewusstsein der Heilberufe verdrängt zu werden.“ Geschätzt würden standardisierte Verfahren und Reibungslosigkeit. Darunter litten individuelle auf den einzelnen Patienten zugeschnittene Behandlungen und die Beziehung stärkende Werte.

So kürzt man leider oft dort, wo es um die Beziehung Arzt-Patient, Pfleger-Patient geht, an der Kontaktzeit. Gerade diese ist jedoch elementar „zum Aufbau einer Vertrauensbeziehung“ und „die zentrale Investition in eine erfolgreiche Betreuung und Therapie“, hält Maio klar fest.

Pflegeberuf verliert seine Identität

Unbestritten war bis anhin, dass sich wirkliche Professionalität im Pflegeberuf dann zeigt, wenn es gelingt, Körper- und Beziehungspflege in gekonnter Weise zu verbinden. „Davon ausgehend“, hält Maio fest, „ist die Zuwendung zum pflegebedürftigen Menschen die eigentliche Erfolgsbedingung einer guten Pflege“.

Angesichts dessen wirken die modernen Kliniken von heute zunehmend eher wie „industrielle Produktionsstätten, in denen die Patienten nicht als Individuen gesehen werden, sondern als Objekte, an denen man standardisierte Verrichtungen vornimmt“. Und der Professor sagt pointiert: „Die schnelle ‚Fliessbandabfertigung‘, das schablonenartige Durchschleusen ist das Handlungsmuster der modernen Kliniken.“ Statt Beziehungs- und Gefühlsarbeit stehe die Durchführung von Einzelmassnahmen im Vordergrund.

Mit der Veränderung des Fokus weg von der sozialen Aufgabe hin zum Geld „wird der eigentliche Wert der Pflege immer weniger gesehen, weil man im stationären Bereich mit der Pflege keine Umsätze steigern kann“. Dabei verkennen die Verantwortlichen die unersetzbare Kompetenz der Pflege für das Wohlbefinden des Patienten. Dies rührt nach Maio daher, dass man „die Klinik als Mittel der Renditeerwirtschaftung“ sieht und „nicht als Ort, an dem man zuerst nach der Not statt nach dem Geld fragt“.

Pflegebedürftige als „Aufwandposten

Diese zunehmende Verkümmerung des Pflegeberufs durch das durchökonomisierte System hat auch Folgen für die Pflegebedürftigen selbst. Das gegenwärtige Gesundheitssystem sieht in ihnen vor allem einen Aufwand. Dabei sind es „unverwechselbare, einzigartige Personen, die sich nicht auf ihre Pflegebedürftigkeit reduzieren lassen“. Dies hat auch Folgen für das Selbstwertgefühl der Patienten. „Sie sehen sich herabgestuft zum ‚Pflegefall‘“, kritisiert Maio. Ein solches Konzept entfernt sich vom Menschlichen, da es „die Pflege auf unpersönliche Verrichtung reduziert ohne Bemühung um einen ganzheitlichen Zugang zum Menschen, der zur Kernidentität der Pflege gehört“.

Technik ist nicht wertfrei

Hinter dieser Entwicklung im Gesundheitsbereich verbirgt sich ein bestimmtes Menschenbild, nämlich ein „mechanistisches Verständnis vom Menschsein und Kranksein“, wie es Maio formuliert. Doch dies allein wäre zu kurz gegriffen. „Es ist“, so der Professor für Medizinethik, „eine Allianz aus Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie, die die moderne Medizin zu dem macht, was sie in vielen Fällen ist: eine Reparaturfabrik ohne Reflexivität, ein Betrieb ohne Seele, ein kühler Apparat, der so eingestellt ist, als ginge es um die Handhabung von Gegenständen.“ Der Mensch selbst bleibt dabei auf der Strecke.

Gerade der Faktor Technik hat hier einen entscheidenden Einfluss auf unser Denken. Man vergisst oft, dass in der Technik und in den von ihr normierten Handlungen immer auch schon Wertentscheidungen enthalten sind. Es ist deshalb ein Trugschluss, Technik als wertfrei zu bezeichnen. Sie schafft soziale Erwartungen dadurch, „dass man sich der Benutzung einer neuen, optionserweiternden Technik kaum entziehen kann“. Es gilt als rational, sie anzuwenden. Tut man dies nicht, kommt man unter Rechtfertigungsdruck. Markantes Beispiel hierfür sind die Möglichkeiten vorgeburtlicher Untersuchung.

„Irrglaube der Politik“

Ohne ein grundlegendes Umdenken in der Politik wird sich an dieser Fehlentwicklung nichts verändern. Statt einer notwendigen Standortbestimmung geht die Stossrichtung unaufhaltsam in noch mehr Ökonomie. Es „herrscht der Irrglaube, das System sei nur zu retten, wenn man die Leitung des Systems den Geschäftsführern überlässt“. Statt der Logik der Heilberufe folgt man der Logik des produzierenden Gewerbes. Dies ist fatal. So „geschieht unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Effizienzsteigerung“, betont Maio, „nichts anderes als ein sukzessiver Abbau des Sozialen“ und eine Durchdringung des gesamten sozialen Systems durch reine Gewinnmaximierung“.

Diese Umpolung der Medizin führt zu einer „vollkommen umgewandelten Kultur, in der die Sorge um den anderen verdrängt ist und sich die Verfolgung von Gewinninteressen als Grundorientierung durchgesetzt hat“, schliesst Maio.

Rückbesinnung auf zwischenmenschliche Werte

Deshalb plädiert der Medizinethiker dafür, sich gegen diese „Umwertung der Werte“ in der Medizin zu wehren und wieder zurückzukehren zu den Werten, die den Arzt und Pfleger auszeichnen und ihre Identität ausmachen. Diese seien die zentralen Schlüssel zum Erfolg medizinischer Behandlung. Deshalb brauche es wieder die „Verinnerlichung der Geduld“ und damit einer „Denkweise, die die Medizin wieder in die Nähe einer zuwendungsorientierten sozialen Praxis rückt“.

Es brauche auch eine „patientengerechte Sprache“, die der Tatsache der Krankheit gerecht werde und gleichzeitig ein Sprechen zu einem einzigartigen und unverwechselbaren Du bleibe. So sei bei Aktion und Gespräch auf das rechte Mass zu achten. „Es geht“, schreibt Maio, „um ein komplementäres Verhältnis, nicht um ein Entweder-Oder.“

Dringend notwendig sei wieder eine Rückbesinnung auf die Demut als soziale Tugend, die den anderen im Auge habe und der heutigen wirtschaftlichen Ausrichtung der Spitäler völlig entgegengesetzt sei. Soziale Werte sollten wieder an die Stelle wirtschaftlichen Wettbewerbsdenkens treten, resümiert Maio.

Mensch ganzheitlich sehen

Auch wenn diese Ausführungen pointiert erscheinen, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass das Gesundheitswesen in der Schweiz verstärkt in diese Richtung geht, wenn auch etwas verzögert im Vergleich zum Ausland. Letztlich braucht es ein grundlegendes Umdenken, um der Betreuung der Patienten ihren ursprünglichen Sinn zurückzugeben. Unsere Gesellschaft muss in den Spitälern wieder Orte für Patienten schaffen, „in denen man neu auf ihre Bedürfnisse als Bedürfnisse ganzer Menschen hört“, ist Maio überzeugt.