„Schulische Bildung und pädagogisches Denken befinden sich in einer Krise“, so Jochen Krautz, Professor für Kunstpädagogik an der Bergischen Universität Wuppertal. Was Krautz hier anspricht, ist mittlerweile weitläufiger Konsens. Es braucht eine Wiederbesinnung auf grundlegende Prinzipien. Und dabei wäre gute Bildung doch gar nicht so schwer …

Von Ralph Studer

Fangen wir – passend zum Internationalen Tag der Bildung am 24. Januar – damit an, was Bildung nicht ist. Gemäss dem heute gängigen Konzept BYOD („Bring Your Own Device“) zur Digitalisierung der Schule sind sämtliche Materialien nur noch online und digital zugänglich. Die haptischen Erfahrungen gehen so praktisch gänzlich verloren. „Die Welt“, so Christine Staehelin, „zeigt sich aufbereitet im Bildschirm, oft reduziert auf Aufgabenstellungen.“ Staehelin ist langjährige Primarlehrerin und Mitglied des Bildungsrats Basel-Stadt. Sie weiss, wovon sie spricht.

Die wichtigste Frage

Seit Längerem ist sie eine vehemente Kritikerin der gegenwärtigen Schulentwicklung. „Wer die Erledigung an die KI delegiert, wird sich die Welt nicht mehr selbst aneignen; wer keine Bücher mehr liest, sondern Zusammenfassungen schreiben lässt, macht sich kein eigenes Bild mehr und weiss nicht mehr, wie andere die Welt sehen.“ Staehelin sieht auch einen Verlust im Wissen generell: „Wer nicht über eine grundlegende Wissensbasis verfügt, sondern immer nur Einzelaspekte abfragt, wird in absehbarer Zeit nicht mehr wissen, wonach man überhaupt fragen kann.“ Und wer die grossen Zusammenhänge nicht kenne, werde sich nicht orientieren können.

An der Diskussion rund um den Einsatz der KI stört Staehelin, dass das Wesentliche nicht diskutiert wird. „Möglicherweise“, gibt sie zu bedenken, „wäre die wichtigste Frage diejenige nach den Auswirkungen der Dominanz der Bildschirme im Unterricht und dem damit einhergehenden Verlust der unmittelbaren Zugänge zur Welt und zu den anderen Menschen.“

Abkehr vom reduktionistischen Menschenbild

Was Staehelin hier anprangert, wird von anderen Bildungsexperten wie Dr. phil. Carl Bossard ebenfalls geteilt. „Im neuen Lehrplan 21“, so Bossard, „wird der Mensch aufs Können reduziert.“ Dieser Lehrplan steht dafür, was Staehelin und Bossard als „Reduktionismus des Menschen und der Bildung“ kritisieren. Er enthält unzählige Kompetenzen und geht von der Prämisse aus, alles Lernbare sei standardisierbar und im Begriff „Können“ erfassbar. Bossard sagt hierzu: „Wissen nur aufs Können, sozusagen aufs Instrumentale oder Funktionale zurückzuführen, ist meines Erachtens banausisch. Der Mensch ist mehr als nur ein Behälter von Kompetenzen.“

Was meint Bildung?

Doch diese einfache Erkenntnis wird heute nicht mehr umgesetzt. Bildung beruht laut Krautz „auf einer inneren Aktivität, auf einem Empfänglichsein für das, was die Sache sagen kann. Bildung braucht ein eigenes inneres und äusseres Tätigsein an und mit der Sache.“

Zur Grundbildung gehören die elementaren Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. Dazu kommen das Verstehen und Konsolidieren, das Festigen und Üben von Wissen und Können sowie die Anwendung des Gelernten. Denn wer grundsätzliche Kulturtechniken nicht mehr beherrscht, dem hilft auch Chat-GPT nicht. Zentrale Aufgabe der Schule ist hierbei auch, die jungen Menschen zu sich selbst und gleichzeitig aus sich heraus zu ihren Möglichkeiten, zu ihren Potenzialen zu führen.

Dies beinhaltet auch, sie zu einer gesunden Autonomie, zur Mündigkeit und zur Übernahme von staatsbürgerlicher Verantwortung für sich selbst und die Gesellschaft zu befähigen. Das geht weit über den Kompetenzbegriff hinaus. Die heutigen Diskussionen über Lehrpläne und Stundentafeln sollten unter diesen Voraussetzungen stattfinden.

Damit bleibt allerdings ein wesentlicher Aspekt, was Bildung ausmacht, noch unbenannt. Bildung heisst nämlich nach Bosshard auch „leidenschaftliche Hingabe, Staunen, Neugier. Das Ich besteht auch in der Kunst, sich zu verlieren an etwas anderes – an etwas, das grösser ist als dieses winzige Ich, an die Kunst, an Musik, ans Universum beispielsweise.“

Bildung braucht eine adäquate Pädagogik

Bildung braucht eine gute Pädagogik als Grundvoraussetzung. Pädagogik meint im Wesentlichen, Kinder auf dem Weg des Grösserwerdens zu führen, „indem sie das Können und Wissen der Kultur erlernen“, so Krautz.

Pädagogik spielt sich in einem asymmetrischen Beziehungsverhältnis ab. Was logisch klingt und in der Realität ihren Spiegel findet, wird in der heutigen Schule jedoch in Frage gestellt. Dabei reicht ein kurzer Blick: Erwachsene können und wissen mehr als Kinder und Jugendliche und tragen für deren Heranwachsen auch die Verantwortung.

„Ziel dieser Führung“, so Krautz, „ist eben Mündigkeit, also die Fähigkeit, selbstständig und verantwortungsbewusst das gemeinsame Leben zu gestalten.“ Verantwortliche Selbstgestaltungsfähigkeit entstehe nicht, indem man Kinder sich selbst überlasse. Die innere kreative Kraft des Kindes, die es „wachsen“ mache, brauche Anleitung und Rahmensetzungen, damit das Kind zum Gemeinschaftswesen werde, folgert Krautz.

Werden diese Konstanten nicht berücksichtigt, wird man dem Menschen und seiner Natur nicht gerecht. Der Mensch ist ein soziales Wesen und wird dies nur in menschlichen Beziehungen. Erst am anderen werden wir zum Ich, wie es der Philosoph Martin Buber formulierte. Krautz schreibt hierzu: „Wir ‚entfalten‘ uns also nicht allein von innen heraus, sondern werden Persönlichkeiten in Resonanz auf und im Wechselspiel mit Mitmenschen und Mitwelt.“

Aufgabe der Schule

Bei dieser Entfaltung des Menschen drehen sich insbesondere in der Pubertät die Fragen um die eigene Identität. Dabei wirken soziale Bindungen und kulturelle Bezüge prägend auf die Heranwachsenden. Gerade der Pubertierende sucht nach Selbstbestätigung, Selbstsicherheit, nach Sinn in einer schwierigen Lebensphase und orientiert sich an den Angeboten der Kultur.

Eben deshalb hat die Schule hier eine besonders wichtige Funktion, hält Krautz fest, da sie ein überreiches Reservoir an Sinnangeboten bereithält. Sie kann und muss die Identitätssuche der Jugendlichen an die Angebote der kulturellen Tradition binden. Krautz verdeutlicht dies an vielen praktischen Beispielen: „Welche Kräfte halten die Welt zusammen? – fragt die Physik. Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? – fragt Religion und Philosophie. Auf wessen Schultern stehen wir? – fragt die Geschichte. Wie denkt man logisch? – zeigt die Mathematik. Wie fühlt sich Liebeskummer an? – weiss die Dichtung. Wie denken andere Kulturen? – vermitteln die Fremdsprachen. Wie spiele ich mit anderen zusammen? – lehrt der Sport. Wie gestalte ich selbst etwas? – zeigt der Kunstunterricht.“

Nimmt die Schule diese Aufgabe nicht wahr und verkürzt ihre Aufgabe auf Kompetenztraining, dann greifen die Jugendlichen in ihrer Identitätssuche nach den Angeboten der Kulturindustrie, gibt der Professor für Kunst zu bedenken.

Die pädagogische Grundfrage

Da jeder Mensch nur eine Bildungsbiographie hat, ist es entscheidend, wer im Schulzimmer steht und wie diese Person wirkt. Schüler brauchen Lehrer, deren Handeln von einer liebenden Hinwendung, von Fürsorge, von Zutrauen und Ermutigung, an sich selbst zu glauben, getragen ist.

Dazu gehört auch echtes Interesse an der Entwicklung des Schülers sowohl in persönlicher als auch fachlicher Hinsicht. Aktives Nachfragen und echtes Verstehen-Wollen sollten Hand in Hand gehen. Schülerzentrierte und leidenschaftliche Lehrer mit einer hohen menschlichen Verantwortung für das Lernen der Kinder sind unentbehrlich.

„Ohne eine gefühlsmässige positive innere Haltung“, hebt Krautz hervor, „wird die sogenannte ‚Professionalisierung‘ von Lehrkräften nichts bewirken, was für die Heranwachsenden sinnvoll und fruchtbar ist.“ Und mit Blick auf den grossen Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi schreibt er: „Getrieben hat ihn die Frage, wie er den jungen Menschen helfen kann, ihren Ort zu finden, Mitmensch zu werden und einen eigenen Beitrag zu den Aufgaben und Möglichkeiten der Menschheit zu leisten. Das ist die pädagogische Grundfrage.“

Das höhere Ziel von Bildung

Heute dominieren Bildschirme den Unterricht. Sie führen zu einem Verlust der unmittelbaren Zugänge zur Welt und zu den Mitmenschen. Mit der reduktionistischen Sicht auf den Menschen und die Bildung ist die heutige Schule von ihrem Lern- und Bildungsauftrag abgekommen. So wird sie dem einzelnen Schüler und seinen Bedürfnissen nicht mehr gerecht. Als „verkehrte Welt“ bezeichnet Christine Staehelin denn auch die Reformen in der Schweizer Schullandschaft in den letzten Jahrzehnten.

Dabei hat Bildung doch ein weit höheres Ziel, das über den einzelnen Menschen hinaus geht und wieder ins Blickfeld der heutigen Schule gehört. „Sie [Bildung] fordert von uns“, hebt Krautz hervor, „einen persönlichen Beitrag zur Entwicklung der Menschheit zu mehr Humanität, Gerechtigkeit und Frieden. Ein ‚überspannter‘ Anspruch? Womöglich. Und ein oft gescheiterter. Aber können wir weniger wollen?“